Urteil Nr. B 10 KG 1/22 R des Bundessozialgericht, 2023-12-14

Judgment Date14 Diciembre 2023
ECLIDE:BSG:2023:141223UB10KG122R0
Judgement NumberB 10 KG 1/22 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. September 2022 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Januar 2020 zurückgewiesen sowie die Klage gegen den Bescheid vom 1. Februar 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Februar 2022 abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für den Zeitraum von September 2018 bis Juni 2019 Kindergeld für sich selbst zusteht.

Der 2001 in Syrien geborene Kläger ist mittlerweile deutscher Staatsangehöriger. Sein Vater ist kurz nach seiner Geburt verstorben. Im Jahr 2015 ist der Kläger aus seinem Heimatort in Syrien geflohen und im September 2015 nach Deutschland eingereist. Auf seinen Asylantrag wurde ihm im September 2017 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Im streitigen Zeitraum bestand eine die Erwerbstätigkeit gestattende Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Er führte damals einen eigenen Haushalt und besuchte die Schule.

Ende 2017 hat sich auch seine Familie auf die Flucht begeben und zunächst jeweils nur für kurze Dauer an verschiedenen Orten in Syrien gelebt, zuletzt in der Nähe von Damaskus. Über ihren ungefähren Aufenthalt konnte der Kläger sich zunächst nur auf dem Umweg über einen Bruder informieren. Später konnte er auch selbst hin und wieder über das Internet mit seiner Mutter telefonieren.

In seinem Antrag auf Kindergeld vom 14.3.2019 gab der Kläger an, ihm sei der Aufenthalt seiner Mutter bekannt. Er telefoniere zwei- bis dreimal im Monat mit ihr. Daher wisse er, dass sie keine konkrete Adresse habe. Die Beklagte lehnte den Antrag ab. Aufgrund des Kontakts zu seiner Mutter habe der Kläger deren Aufenthalt gekannt (Bescheid vom 7.5.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.6.2019). Seine hiergegen gerichtete Klage hat das SG abgewiesen. Dem Kläger sei der Aufenthaltsort seiner Mutter bekannt gewesen, wie er im Verfahren mehrfach bekundet habe. Es liege nahe und entspreche seinen Angaben, dass er sich bei den Telefonaten mit seiner Mutter nach ihrem Aufenthaltsort erkundigt habe. Andernfalls wäre er so zu stellen, als ob er den Aufenthalt seiner Mutter erfragt hätte, weil ein missbräuchliches Sich-Verschließen der Kenntnis des Aufenthalts gleichstehe (Urteil vom 22.1.2020).

Im Laufe des vom Kläger angestrengten Berufungsverfahren lehnte die Beklagte Kindergeld für die Monate September bis November 2018 ab (Bescheid vom 1.2.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.2.2022).

Auf die Berufung des Klägers hat das LSG die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kindergeld für den streitgegenständlichen Zeitraum zu zahlen. Eine dem Anspruch entgegenstehende Kenntnis des Aufenthalts könne nur angenommen werden, wenn zumindest ein Elternteil für das Kind "greifbar" sei. Dies erfordere einen verstetigten und nicht nur vorübergehenden Aufenthaltsort sowie eine postalische Erreichbarkeit der Eltern oder des verbliebenen Elternteils. Das folge aus dem Sinn und Zweck des Kindergelds für sich selbst. Die Leistung sei eine reine Sozialleistung, auf die gerade solche Kinder angewiesen seien, denen ihre Eltern oder Verwandten nicht mehr helfen könnten. Dem Kind solle der Kindergeldanspruch erhalten bleiben, solange kein Leistungsberechtigter vorhanden sei, der die kindbedingten wirtschaftlichen Belastungen tragen könne (Urteil vom 22.9.2022).

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG). Dem Anspruch stehe entgegen, dass der Kläger den Aufenthalt seiner Mutter gekannt habe. Eine postalische Erreichbarkeit oder eine Verstetigung des Aufenthalts sei nach dem Wortlaut der Norm, der gerade nicht auf einen "gewöhnlichen Aufenthalt" abstelle, nicht erforderlich. Vielmehr sei es ausreichend, dass ein Kontakt zu den örtlichen Bedingungen im Aufenthaltsland des Elternteils hergestellt werden könne. Dies sei dem Kläger möglich gewesen. Ferner spreche die Systematik der Vorschrift und der ihr nach den Gesetzesmaterialien zugedachte Sinn und Zweck für das Erfordernis einer mit einer Vollwaise vergleichbaren Konstellation. Nach der Absicht des Gesetzgebers stehe nur solchen Kindern ein Anspruch auf sozialrechtliches Kindergeld zu, die - anders als der Kläger - nicht wüssten, ob ihre Eltern noch am Leben seien und jemals die Elternstelle wieder einnehmen könnten. Es handele sich um eine Ausnahmeregelung unter Härtefallgesichtspunkten.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 22. September 2022 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 22. Januar 2020 zurückzuweisen sowie die Klage gegen den Bescheid vom 1. Februar 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Februar 2022 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG war aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen sowie die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 1.2.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.2.2022 abzuweisen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Der Kläger hat für die Monate September 2018 bis Juni 2019 keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst.

A. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG, mit dem es die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide und des SG-Urteils verurteilt hat, dem Kläger Kindergeld für die Zeit von September 2018 bis Juni 2019 zu zahlen.

B. Die Revision ist begründet. Die Beklagte hat den Anspruch des Klägers auf Kindergeld für sich selbst zu Recht verneint (dazu unter 1.). Daher war dessen Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 1.2.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.2.2022 (§ 95 SGG) abzuweisen (dazu unter 2.).

1. Der Kläger hat für die Zeit von September 2018 bis Juni 2019 keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst.

Vorbehaltlich der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen (vgl § 1 Abs 3; § 2 Abs 2 und 3 BKGG) erhält gemäß § 1 Abs 2 Satz 1 BKGG in der bereits seit dem 1.1.1996 geltenden Fassung des Jahressteuergesetzes 1996 vom 11.10.1995 (BGBl I 1250) Kindergeld für sich selbst, wer in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Nr 1), Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt (Nr 2) und nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist (Nr 3). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht, weil er den Aufenthalt seiner Mutter kannte (dazu unter a). Mangels einer planwidrigen Regelungslücke kann der geltend gemachte Anspruch auch nicht auf eine analoge Anwendung dieser Vorschrift gestützt werden (dazu unter b). Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nicht (dazu unter c).

a) Der Kläger kannte entgegen § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG den Aufenthalt seiner Mutter, was seinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst ausschließt.

Ein Kindergeld für sich selbst beanspruchendes Kind kennt den Aufenthalt seiner Eltern iS des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG nur dann nicht, wenn es nicht weiß, an welchem für ihn bestimmbaren Ort sich seine Eltern befinden (dazu unter aa), wenn im Rahmen einer ex-ante Betrachtung aus seiner Sicht keine zumutbare Möglichkeit besteht, innerhalb eines angemessenen Zeitraums in Kontakt mit den Eltern zu treten (dazu unter bb) und wenn Dauer und Ausmaß der Unkenntnis über den Verbleib seiner Eltern nach den Umständen des Einzelfalls objektiv den unwiederbringlichen Verlust der Eltern-Kind-Beziehung befürchten lassen. Auf das Bestehen einer intakten Beziehung zu den Eltern oder eines gegenseitigen Willens zu deren Pflege oder Wiederherstellung kommt es hierbei nicht an (dazu unter cc). Steht die Kenntnis des Kindergeld eines für sich selbst beanspruchenden Kindes vom Aufenthalt seiner Eltern infrage, hat die Familienkasse die vom Kind behauptete Unkenntnis in Erfüllung ihrer Amtsermittlungspflicht festzustellen; im Streitfall ist dies auch Sache der Tatsachengerichte. Nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten verbleibende Zweifel am Vorliegen der Unkenntnis des Kindes über den Aufenthalt der Eltern als anspruchsbegründende innere Tatsache gehen zu seinen Lasten (dazu unter dd). Nach diesen Vorgaben hatte der Kläger im streitigen Zeitraum Kenntnis vom Aufenthalt seiner Mutter iS des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG und kann deswegen für diese Zeit kein Kindergeld für sich selbst beanspruchen (dazu unter ee).

aa) Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern iS des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG hat ein Kind bereits dann, wenn es weiß, an welchem für das Kind bestimmbaren Ort sich seine Eltern zumindest vorübergehend befinden (vgl zur subjektiven Ausgestaltung der Vorschrift bereits BSG Urteil vom 8.4.1992 - 10 RKg 12/91 - SozR 3-5870 § 1 Nr 1 - juris RdNr 17). Nicht erforderlich ist dagegen die Kenntnis von einem Wohnsitz iS des § 30 Abs 3 Satz 1 SGB I, einem gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I, einem "verstetigten" oder "verfestigten" Aufenthalt, einer ladungsfähigen Anschrift oder einer sonstigen die postalische Erreichbarkeit ermöglichenden Adresse der Eltern. Dies folgt aus dem Wortlaut (dazu unter <1>), der Systematik (dazu unter <2>) sowie dem Sinn und Zweck der Norm, wie er sich aus der Entstehungsgeschichte entnehmen lässt (dazu unter <3>).

(1) Diese Auslegung der Norm ist von ihrem Wortlaut gedeckt. Im allgemeinen Sprachgebrauch umfasst der Begriff des Aufenthalts ein weites Spektrum von Bedeutungen; es reicht von der zeitlich begrenzten Anwesenheit an einem Ort bis zur Bezeichnung des (dauerhaften) Wohnortes (vgl https://www.duden.de/rechtschreibung/Aufenthalt, zuletzt aufgerufen am 13.12.2023). Eindeutige zeitliche und örtliche Grenzen lassen sich aus der...

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