Urteil Nr. B 10 KG 2/22 R des Bundessozialgericht, 2023-12-14

Judgment Date14 Diciembre 2023
ECLIDE:BSG:2023:141223UB10KG222R0
Judgement NumberB 10 KG 2/22 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. September 2022 aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 21. Februar 2020 zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin für den Zeitraum von Juni 2018 bis März 2019 Kindergeld für sich selbst zusteht.

Die im Jahr 2002 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige, hat ihren Wohnsitz in Deutschland und führt seit August 2018 einen eigenen Hausstand. Während des streitigen Zeitraums besuchte sie eine weiterführende Schule. Sie ist Tochter einer im März 2017 verstorbenen Deutschen und eines nepalesischen Vaters. Die Eltern haben sich etwa 2005 getrennt. Seither lebt der Vater wieder in Nepal. Seine Kontakte zur Klägerin beschränkten sich auf ein oder zwei persönliche Begegnungen vor dem Tod der Mutter und ein Wiedersehen kurz danach. Sporadische Kommunikation erfolgte telefonisch oder mittels eines Messengerdienstes. Unterhalt leistete er keinen. Schreiben des Jugendamts an die der Klägerin bekannte Anschrift in Kathmandu konnten 2011 und 2019 nicht zugestellt werden. Bereits zuvor hatte private Post der Klägerin ihren Vater dort nicht erreicht. Während des Berufungsverfahrens hat die Klägerin über einen Messengerdienst ihren Vater nach dessen Anschrift gefragt. Daraufhin hat er eine gegenüber der zuvor bekannten Anschrift leicht abweichende Adresse in Kathmandu angegeben. Es konnte jedoch nicht geklärt werden, ob während des streitigen Zeitraums Zustellungen unter dieser Adresse möglich gewesen wären. Auf eine Bitte des LSG um Mitteilung seiner Anschrift, die dem Vater der Klägerin an eine von ihm 2018 verwandte E-Mail-Adresse übersandt worden war, hat er nicht geantwortet.

Die Klägerin beantragte am 9.12.2018 Kindergeld für sich selbst. Dies lehnte die Beklagte ab, weil der Klägerin der Aufenthalt ihres Vaters bekannt sei (Bescheid vom 15.1.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.2.2019).

Die hiergegen erhobene Klage hat das SG abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 21.2.2020). Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG sowie den Bescheid vom 15.1.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.2.2019 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Kindergeld für den Zeitraum von Juni 2018 bis März 2019 zu zahlen. Eine dem Anspruch entgegenstehende Kenntnis des Aufenthalts könne nur angenommen werden, wenn zumindest ein Elternteil für das Kind "greifbar" sei. Dies erfordere einen verstetigten und nicht nur vorübergehenden Aufenthaltsort sowie eine postalische Erreichbarkeit der Eltern oder des verbliebenen Elternteils. Das folge aus dem Sinn und Zweck des Kindergelds für sich selbst. Die Leistung sei eine reine Sozialleistung, auf die gerade solche Kinder angewiesen seien, denen ihre Eltern oder Verwandten nicht mehr helfen könnten. Dem Kind solle der Kindergeldanspruch erhalten bleiben, solange kein Leistungsberechtigter vorhanden sei, der die kindbedingten wirtschaftlichen Belastungen tragen könne. Daher fehle es an der Erreichbarkeit auch dann, wenn die Eltern sich ihrem Kind entzögen und es im Stich ließen (Urteil vom 22.9.2022).

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG). Dem Kindergeldanspruch stehe entgegen, dass die Klägerin den Aufenthalt ihres Vaters zumindest vage gekannt und mit diesem mittels eines Messengerdienstes sporadisch in Kontakt gestanden habe. Eine "nur vage Kenntnis" sei der "Unkenntnis" nicht gleichzusetzen, anderenfalls führe dies zu Abgrenzungsschwierigkeiten. Die Tatbestandsalternative sei dann auch nicht mehr mit der einer anspruchsberechtigten Vollwaise vergleichbar. In der Situation des "Entziehens" würden Eltern gegebenenfalls bewusst nicht die kindergeldrechtliche Elternstelle einnehmen. Insofern sei die Situation der Klägerin eher mit der von Kindern vergleichbar, deren Eltern ihre Kinder finanziell nicht versorgen wollten oder könnten. Für Inlandsfälle bestehe in diesen Fällen die Möglichkeit der Abzweigung. Dies sei in Auslandsfällen nicht möglich. Diese Lücke könne aber nicht im Wege der vom LSG vorgenommenen Auslegung geschlossen werden.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 22.9.2022 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG Berlin vom 21.2.2020 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angegriffene Urteil.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG war aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den ihre Klage abweisenden Gerichtsbescheid des SG zurückzuweisen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Die Klägerin hat für die Monate Juni 2018 bis März 2019 keinen Anspruch auf Kindergeld.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das allein von der Beklagten angegriffene Urteil des LSG, mit dem dieses den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG und den Bescheid der Beklagten vom 15.1.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.2.2019 aufgehoben und die Beklagte verurteilt hat, der Klägerin Kindergeld für den Zeitraum von Juni 2018 bis März 2019 zu zahlen.

2. Die Revision der Beklagten ist begründet, weil die Klägerin für den streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst hat.

Vorbehaltlich der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen (vgl § 1 Abs 3; § 2 Abs 2 und 3 BKGG) erhält gemäß § 1 Abs 2 Satz 1 BKGG in der bereits seit dem 1.1.1996 geltenden Fassung des Jahressteuergesetzes 1996 vom 11.10.1995 (BGBl I 1250) Kindergeld für sich selbst, wer in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Nr 1), Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt (Nr 2) und nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist (Nr 3). Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht, weil sie den Aufenthalt ihres Vaters kannte (dazu unter a). Mangels einer planwidrigen Regelungslücke kann der geltend gemachte Anspruch auch nicht auf eine analoge Anwendung dieser Vorschrift gestützt werden (dazu unter b). Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nicht (dazu unter c).

a) Die Klägerin kannte entgegen § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG den Aufenthalt ihres Vaters, was einen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst ausschließt.

Ein Kindergeld für sich selbst beanspruchendes Kind kennt den Aufenthalt seiner Eltern iS des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG nur dann nicht, wenn es nicht weiß, an welchem für ihn bestimmbaren Ort sich seine Eltern befinden (dazu unter aa), wenn im Rahmen einer ex-ante Betrachtung aus seiner Sicht keine zumutbare Möglichkeit besteht, innerhalb eines angemessenen Zeitraums in Kontakt mit den Eltern zu treten (dazu unter bb) und wenn Dauer und Ausmaß der Unkenntnis über den Verbleib seiner Eltern nach den Umständen des Einzelfalls objektiv den unwiederbringlichen Verlust der Eltern-Kind-Beziehung befürchten lassen. Auf das Bestehen einer intakten Beziehung zu den Eltern oder einen gegenseitigen Willen zu deren Pflege oder Wiederherstellung kommt es hierbei nicht an (dazu unter cc). Steht die Kenntnis des Kindergeld für sich selbst beanspruchenden Kindes vom Aufenthalt seiner Eltern infrage, hat die Familienkasse die vom Kind behauptete Unkenntnis in Erfüllung ihrer Amtsermittlungspflicht festzustellen; im Streitfall ist dies auch Sache der Tatsachengerichte. Nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten verbleibende Zweifel am Vorliegen der Unkenntnis des Kindes über den Aufenthalt der Eltern als anspruchsbegründende innere Tatsache gehen zu seinen Lasten (dazu unter dd). Nach diesen Vorgaben hatte die Klägerin im streitigen Zeitraum Kenntnis vom Aufenthalt ihres Vaters iS des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG und kann deswegen für diese Zeit kein Kindergeld für sich selbst beanspruchen (dazu unter ee).

aa) Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern iS des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG hat ein Kind bereits dann, wenn es weiß, an welchem für das Kind bestimmbaren Ort sich seine Eltern zumindest vorübergehend befinden (vgl zur subjektiven Ausgestaltung der Vorschrift bereits BSG Urteil vom 8.4.1992 - 10 RKg 12/91 - SozR 3-5870 § 1 Nr 1 - juris RdNr 17). Nicht erforderlich ist dagegen die Kenntnis von einem Wohnsitz iS des § 30 Abs 3 Satz 1 SGB I, einem gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I, einem "verstetigten" oder "verfestigten" Aufenthalt, einer ladungsfähigen Anschrift oder einer sonstigen die postalische Erreichbarkeit ermöglichenden Adresse der Eltern. Dies folgt aus dem Wortlaut (dazu unter <1>), der Systematik (dazu unter <2>) sowie dem Sinn und Zweck der Norm, wie er sich aus der Entstehungsgeschichte entnehmen lässt (dazu unter <3>).

(1) Diese Auslegung der Norm ist von ihrem Wortlaut gedeckt. Im allgemeinen Sprachgebrauch umfasst der Begriff des Aufenthalts ein weites Spektrum von Bedeutungen; es reicht von der zeitlich begrenzten Anwesenheit an einem Ort bis zur Bezeichnung des (dauerhaften) Wohnortes (vgl...

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