Urteil Nr. B 10 ÜG 4/19 R des Bundessozialgericht, 2020-03-27

Judgment Date27 Marzo 2020
ECLIDE:BSG:2020:270320UB10UEG419R0
Judgement NumberB 10 ÜG 4/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Überlanges Gerichtsverfahren - Entschädigungsklage - Bestimmtheit der Verzögerungsrüge - Benennung des Aktenzeichens oder klare Bestimmbarkeit des gerügten Verfahrens - entsprechende Geltung der für Prozesserklärungen geltenden Auslegungsgrundsätze - Vielkläger - Unwirksamkeit der pauschalen Rüge aller anhängigen Verfahren als verzögert - widersprüchliches Verhalten bei Behinderung der Verfahrensbeschleunigung durch unklare Zuordnungen - keine Hinweispflicht des Richters bei unwirksamen Verzögerungsrügen - Schriftformerfordernis - Erhebung von Verzögerungsrügen nur bis Verfahrensabschluss - Präklusionswirkung bei nicht rechtzeitig erhobener Verzögerungsrüge - eigenständige Bewertung der Restzeit mit voller Vorbereitungs- und Bedenkzeit - Wartefrist
Leitsätze

1. Eine Verzögerungsrüge muss sich auf ein mit Aktenzeichen benanntes oder nach dem Inhalt der Erklärung klar bestimmbares Ausgangsverfahren beziehen.

2. Für die Auslegung einer Erklärung als Verzögerungsrüge sind die für Prozesserklärungen geltenden Auslegungsgrundsätze entsprechend heranzuziehen.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 24. Januar 2019 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 2000 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Verurteilung des beklagten Landes zur Zahlung einer Entschädigung iHv 2000 Euro wegen überlanger Dauer des vor dem SG Potsdam zunächst unter dem Aktenzeichen S 31 AS 1675/09, sodann unter dem Aktenzeichen S 35 AS 1675/09 und zuletzt unter dem Aktenzeichen S 35 AS 1137/09 geführten Klageverfahrens.

Der Kläger, der Volljurist ist und Leistungen nach dem SGB II bezog, beantragte beim zuständigen Grundsicherungsträger die Übernahme der Kosten für Fachanwaltslehrgänge zum Sozial- und Verwaltungsrecht. Den Antrag lehnte der Grundsicherungsträger mit Bescheid vom 27.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.4.2009 ab. Hiergegen erhob der Kläger am 24.4.2009 Klage beim SG, die zunächst unter dem Aktenzeichen S 31 AS 1675/09 geführt wurde, und begehrte die Übernahme der Kosten und die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtbewilligung der Kostenübernahme für die beiden Fachanwaltslehrgänge. Nach Klageerwiderung und einem Ablehnungsgesuch des Klägers vom 5.2.2010 gegen die zuständige Kammervorsitzende wegen Besorgnis der Befangenheit, das vom LSG mit Beschluss vom 23.3.2010 (L 1 SF 38/10) zurückgewiesen wurde, wechselte das Verfahren in die Zuständigkeit einer anderen Kammer. Dort wurde es unter dem Aktenzeichen S 35 AS 1675/09 fortgeführt. Deren Vorsitzende beraumte am 14.10.2011 in diesem und in 14 weiteren Klageverfahren des Klägers einen Erörterungstermin auf den 16.11.2011 an. Am 15.11.2011 hob das SG den Termin wegen Verhinderung des Terminsvertreters des beklagten Grundsicherungsträgers auf und verlegte diesen auf den 11.1.2012. Mit einem nicht zum Klageverfahren S 35 AS 1675/09 gelangten Schreiben vom 15.11.2011 zum Aktenzeichen "S 35 AS 1137/09 u.a.", beim SG eingegangen am 17.11.2011, rügte der Kläger die Verschiebung des Erörterungstermins und "die generellen Verzögerungen der zum Teil bereits seit Beginn des Jahres 2009 anhängigen Verfahren". In dem am 11.1.2012 durchgeführten Erörterungstermin zu dem Klageverfahren S 35 AS 1675/09 erklärte der Kläger den Feststellungsantrag bezüglich des Fachanwaltslehrgangs Verwaltungsrecht für erledigt. Mit Beschluss des SG vom 12.1.2012 wurde das Klageverfahren S 35 AS 1675/09 mit dem Klageverfahren S 35 AS 1137/09 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und unter dem Aktenzeichen S 35 AS 1137/09 fortgeführt. Nach weiteren Schreiben des Klägers wies das SG nach mündlicher Verhandlung vom 27.2.2013 mit Urteil vom selben Tag die Klagen ab.

Gegen das ihm am 4.4.2013 zugestellte Urteil des SG erhob der Kläger Berufung beim LSG, die (zusammen mit einer hinzuverbundenen Berufung) durch Beschluss vom 22.3.2017 zurückgewiesen wurde. Seine Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BSG mit Beschluss vom 23.1.2018 (B 14 AS 318/17 B) als unzulässig verworfen.

Nachdem das LSG als Entschädigungsgericht mit Beschluss vom 11.4.2014 dem Kläger Prozesskostenhilfe (PKH) für eine Klage auf Entschädigung von 2000 Euro wegen überlanger Dauer des beim SG unter dem Aktenzeichen S 35 1675/09 geführten Klageverfahrens (nachfolgend: Ausgangsverfahren) bewilligt hatte, hat der Kläger am 15.4.2014 Entschädigungsklage in dieser Höhe erhoben. Mit Urteil vom 24.1.2019 hat das Entschädigungsgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Entschädigung. Im Ausgangsverfahren seien zwar bereits bis zum 3.12.2011 (Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren <ÜGG>) Phasen gerichtlicher Inaktivität im Umfang von 20 Kalendermonaten und im restlichen Zeitabschnitt bis zur Urteilszustellung im Umfang von weiteren 7 Kalendermonaten aufgetreten. Abzüglich einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten übersteige die Verfahrensdauer das angemessene Maß um 15 Kalendermonate. Es fehle aber an einer vom Kläger unverzüglich erhobenen Verzögerungsrüge. Da das Ausgangsverfahren schon zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ÜGG am 3.12.2011 verzögert gewesen sei, hätte die Verzögerungsrüge vom Kläger binnen drei Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes beim Ausgangsgericht erhoben werden müssen. Von den vom Kläger als Rügen benannten Schreiben vom 15.11.2011, 22.12.2011, 17.7.2012, 18.1.2013, 31.7.2013 und 4.8.2013 seien nur die Schreiben vom 15.11.2011 und 22.12.2011 vor Ablauf dieser Dreimonatsfrist beim SG eingegangen. Bei dem Schreiben des Klägers vom 15.11.2011 handele es sich bereits deshalb nicht um eine Verzögerungsrüge, weil maßgeblich allein Äußerungen seien, die nach dem Inkrafttreten des ÜGG an das Ausgangsgericht herangetragen worden seien. Auch das Telefax-Schreiben des Klägers vom 22.12.2011 sei keine auf das Ausgangsverfahren bezogene Verzögerungsrüge. Dieses Schreiben weise weder das Aktenzeichen des Ausgangsverfahrens aus noch sei es zu dessen Akte gelangt. Zwar sei ihm zu entnehmen, dass der Kläger die überlange Dauer seiner "bereits seit fast drei Jahren anhängigen Fälle" rügen wolle. Damit sei der Kreis der wegen überlanger Dauer gerügten Verfahren aber nicht eindeutig zu bestimmen. Daran ändere auch die Bezugnahme auf das Schreiben vom 15.11.2011 nichts. Eine Verzögerungsrüge müsse sich auf ein konkret mit Aktenzeichen benanntes oder auf andere Weise eindeutig bestimmbares Ausgangsverfahren beziehen, sonst werde sie ihrer Warnfunktion nicht gerecht. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass hier sämtliche Verfahren des Klägers bei einer Kammer anhängig gewesen seien. Dahingestellt bleiben könne, ob die Schreiben des Klägers vom 17.7.2012 und 18.1.2013 als Verzögerungsrügen für das erstinstanzliche Ausgangsverfahren zu werten seien. Denn für die Zeit ab dem möglichen Rügezeitpunkt 17.7.2012 liege keine entschädigungspflichtige Verzögerung (7 Kalendermonate Verzögerung abzüglich 12 Kalendermonate Vorbereitungs- und Bedenkzeit) vor.

Gegen dieses Urteil des Entschädigungsgerichts richtet sich die Revision des Klägers. Er rügt eine Verletzung des § 198 GVG und des Art 23 ÜGG sowie der §§ 133, 157 BGB und führt ua aus, das Entschädigungsgericht habe zu Unrecht sein auf das Schreiben vom 15.11.2011 Bezug nehmendes Schreiben vom 22.12.2011 nicht als Verzögerungsrüge ausgelegt, indem es keine unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips am wirklichen Willen des Entschädigungsklägers orientierte Auslegung vorgenommen habe. Eine besondere Form für die Verzögerungsrüge sei nicht vorgeschrieben. Daher könne sie ohne Benennung eines Aktenzeichens in einem Sammelschreiben beim Gericht erhoben werden. Könne ein Richter einer Verzögerungsrüge nicht entnehmen, auf welches Verfahren sie sich beziehe, habe er die Pflicht beim Rügenden nachzufragen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 24. Januar 2019 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilten, dem Kläger wegen der unangemessenen Dauer des vor dem Sozialgericht Potsdam zunächst unter dem Aktenzeichen S 31 AS 1675/09 und zuletzt unter dem Aktenzeichen S 35 AS 1137/09 geführten Klageverfahrens eine Entschädigung in Höhe von 2000 Euro zu zahlen.

Das beklagte Land beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Es hält das angefochtene Urteil des Entschädigungsgerichts für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2, § 153 Abs 1, § 165 Satz 1 SGG).

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das Entschädigungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Kläger mangels wirksamer Verzögerungsrüge iS des § 198 Abs 3 GVG keinen Anspruch auf Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens nach § 198 Abs 1 Satz 1 GVG hat.

A. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist der vom Kläger ausschließlich geltend gemachte Anspruch auf Geldentschädigung iHv 2000 Euro wegen überlanger Dauer des vor dem SG Potsdam zunächst unter dem Aktenzeichen S 31 AS 1675/09, sodann unter dem Aktenzeichen S 35 AS 1675/09 und zuletzt unter dem Aktenzeichen S 35 AS 1137/09 geführten Klageverfahrens. Potentiell entschädigungspflichtig ist zwar gemäß § 198 Abs 6 Nr 1 GVG der gesamte Zeitraum eines Gerichtsverfahrens von dessen Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss. Die vom Kläger im Rahmen seiner Dispositionsbefugnis (vgl § 123 SGG) vorgenommene Begrenzung der Entschädigungsklage auf den Ausgleich des ihm infolge der unangemessenen Dauer des Klageverfahrens entstandenen Nachteils ist prozessrechtlich zulässig. Die Beschränkung auf einen Verfahrenszug - hier des Klageverfahrens - stellt einen abtrennbaren Teil des Entschädigungsanspruchs wegen unangemessener Dauer eines...

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