Urteil Nr. B 10 ÜG 2/21 R des Bundessozialgericht, 2023-03-09

Judgment Date09 Marzo 2023
ECLIDE:BSG:2023:090323UB10UEG221R0
Judgement NumberB 10 ÜG 2/21 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. November 2020 wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 5300 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Der Kläger begehrt eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer mehrerer vor dem SG Frankfurt am Main und dem Hessischen LSG geführter Verfahren, die er als Einheit betrachtet.

Dem Entschädigungsverfahren liegt ein Streit über die Weitergewährung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit ab 9.12.1998 zugrunde. Auf eine im Jahr 1999 vor dem SG Frankfurt am Main erhobene Klage (S 19 AL 1739/99) und die nachfolgende Berufung (L 10 AL 115/04, später L 7/10 AL 115/04) wurde die beklagte Bundesagentur für Arbeit mit Urteil des Hessischen LSG vom 21.8.2009 dem Grunde nach zur Zahlung von Alhi verurteilt. Gegen die Höhe der daraufhin bewilligten Leistungen wandte sich der Kläger mit einer im November 2010 erhobenen Klage (S 1 AL 520/10, später S 32 AL 520/10). In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 11.8.2014 nahm seine damalige Prozessbevollmächtigte die Klage zurück. Der Rücknahme widersprach der Kläger mit Schreiben vom 20.8.2014 (Eingang beim SG am 25.8.2014), weil diese von der Kammervorsitzenden erzwungen worden und ohne seine Zustimmung erfolgt sei. Am 23.12.2014 erhob er Verzögerungsrüge. Mit Gerichtsbescheid vom 10.7.2017 (S 19 AL 69/17) stellte das SG fest, dass die Klage zurückgenommen sei. Berufung und Nichtzulassungsbeschwerde hiergegen blieben erfolglos (Urteil des Hessischen LSG vom 16.3.2018 - L 7 AL 62/17; Beschluss des BSG vom 23.5.2018 - B 11 AL 27/18 B).

Das LSG als Entschädigungsgericht hat die bereits am 9.7.2015 erhobene Entschädigungsklage abgewiesen. Entschädigungsrechtlich lägen trotz inhaltlichem Zusammenhangs mehrere selbstständige Verfahren vor. Wegen des von 1999 bis 2009 dauernden Verfahrens über den Anspruch auf Alhi dem Grunde nach (S 19 AL 1739/99, L 7/10 AL 115/04) sei die Entschädigungsklage erst nach der am 3.6.2012 ausgelaufenen materiell-rechtlichen Ausschlussfrist für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) bereits rechtskräftig abgeschlossene Verfahren erhoben worden. Hinsichtlich des nachfolgenden Verfahrens über die Höhe der Alhi (S 1/32 AL 520/10) sei die Klagefrist von sechs Monaten nach Verfahrensabschluss nicht eingehalten und auch die Verzögerungsrüge verspätet erhoben worden. Wegen der festgestellten Wirksamkeit der Klagerücknahme bilde diese den Zeitpunkt des Verfahrensabschlusses. Zugleich sei deshalb das Verfahren über die Höhe der Alhi getrennt von demjenigen über die Wirksamkeit der Klagerücknahme (S 19 AL 69/17, L 7 AL 62/17) zu betrachten. Diesbezüglich sei die Verzögerungsrüge zu früh erhoben worden, weil vier Monate nach dem Fortsetzungsantrag noch keine Besorgnis einer Verzögerung des Rechtsstreits bestanden habe. Im Übrigen liege keine Überlänge dieses Verfahrens vor (Urteil vom 18.11.2020).

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 198 Abs 1, 3 und 5 GVG. Er verlangt nur noch eine Entschädigung in Geld wegen 53 Monaten unangemessen langer Dauer des Verfahrens zur Höhe der Alhi und des sich anschließenden Streits über die Wirksamkeit der Klagerücknahme. Verzögerungsrüge und Entschädigungsklage seien zum richtigen Zeitpunkt erhoben worden, weil diese Verfahren wegen ihrer besonderen Nähe entschädigungsrechtlich als Einheit zu betrachten seien. Anders als bei einer erfolgreichen Restitutionsklage, bei der das ursprünglich in Rechtskraft erwachsende Urteil in einem neuen Verfahren zu überprüfen sei, werde bei unwirksamer Klagerücknahme das ursprüngliche Verfahren lediglich fortgesetzt, ohne dass es zuvor rechtskräftig geworden sei.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG vom 18.11.2020 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen unangemessener Dauer der vor dem SG Frankfurt am Main unter den Aktenzeichen S 1/32 AL 520/10 und S 19 AL 69/17 und vor dem Hessischen LSG unter dem Aktenzeichen L 7 AL 62/17 geführten Verfahren eine Entschädigung in Höhe von 5300 Euro zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit der Entschädigungsklage zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil. Zudem hält er die Revision für nicht hinreichend begründet und die geltend gemachte Entschädigungssumme für nicht schlüssig errechnet.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

A. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG als Entschädigungsgericht, mit dem die Entschädigungsklage abgewiesen worden ist, wobei der Kläger im Revisionsverfahren ausschließlich einen Anspruch auf Geldentschädigung in Höhe von 5300 Euro nur noch wegen der unangemessenen Dauer der Verfahren zur Höhe der Alhi (S 1/32 AL 520/10) und zur Wirksamkeit der Klagerücknahme vor dem SG und LSG (S 19 AL 69/17, L 7 AL 62/17) geltend macht (vgl zur Zulässigkeit der Begrenzung des Entschädigungsbegehrens auf die Tatsacheninstanzen eines Ausgangsverfahrens BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 1/13 R - BSGE 118, 91 = SozR 4-1720 § 198 Nr 7, RdNr 21). Auch die Begrenzung auf einen Entschädigungsanspruch in Geld unter Verzicht auf die Geltendmachung des sogenannten "kleinen Entschädigungsanspruchs" in Form der isolierten Feststellung unangemessener Verfahrensdauer nach § 198 Abs 4 GVG (s hierzu BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 57) ist im Rahmen der Dispositionsbefugnis des Klägers (§ 123 SGG) zulässig (vgl BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 11; Hessisches LSG Urteil vom 8.7.2020 - L 6 SF 6/19 EK AS - juris RdNr 25; Röhl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 198 GVG RdNr 158, Stand 2.3.2023).

B. Die Revision des Klägers ist zulässig. Insbesondere genügt die Begründung den Anforderungen aus § 164 Abs 2 Satz 3 SGG, wonach ua die verletzte Rechtsnorm zu bezeichnen ist. Der Kläger macht ein vom Entschädigungsgericht abweichendes Verständnis des Begriffs des Gerichtsverfahrens geltend. Zwar benennt er nicht § 198 Abs 6 Nr 1 GVG, der das Gerichtsverfahren definiert. Der Begriff "Gerichtsverfahren" ist aber vor allem Tatbestandsmerkmal des in § 198 Abs 1 Satz 1 GVG normierten Entschädigungsanspruchs. Schon deshalb ist die Benennung von § 198 Abs 1 GVG als übergeordneter maßgeblicher Anspruchsnorm ausreichend (vgl zu den Anforderungen an die Bezeichnung der verletzten Rechtsnorm BSG Urteil vom 29.8.2012 - B 12 KR 25/10 R - BSGE 111, 257 = SozR 4-2400 § 7 Nr 17, RdNr 12; BSG Urteil vom 19.8.2003 - B 2 U 38/02 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 1 - juris RdNr 19).

C. Die Revision des Klägers ist aber unbegründet. Zu Recht hat das LSG einen Entschädigungsanspruch des Klägers sowohl wegen der Dauer des Verfahrens über die Höhe der Alhi als auch wegen der Dauer des Verfahrens über die Wirksamkeit der Klagerücknahme verneint.

Der mit der Entschädigungsklage vom Kläger geltend gemachte Anspruch ist an §§ 198 ff GVG zu messen (dazu unter 1.). Die Entschädigungsklage ist teilweise bereits unzulässig (dazu unter 2.) und im Übrigen unbegründet (dazu unter 3.).

1. Das Begehren des Klägers ist sowohl in prozessualer als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht an § 202 Satz 2 SGG iVm §§ 198 ff GVG zu messen, weil das ÜGG vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) anwendbar ist. Art 23 Satz 1 Alt 1 ÜGG eröffnet Entschädigungsansprüche auch für solche...

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