Urteil Nr. B 11 AL 31/21 R des Bundessozialgericht, 2022-09-22

Judgment Date22 Septiembre 2022
ECLIDE:BSG:2023:220922UB11AL3121R0
Judgement NumberB 11 AL 31/21 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden‑Württemberg vom 20. Januar 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 1.7. bis 24.9.2018. Im Streit ist die Höhe des zu berücksichtigenden Bemessungsentgelts.

Der 1957 geborene und als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger war vom 12.10.1987 bis 30.6.2018 Arbeitnehmer der H AG. Am 23.6.2015 vereinbarte er in einem als solchen überschriebenen "Altersteilzeitvertrag" mit seiner Arbeitgeberin für die Zeit ab 1.10.2015 ua das Ende des Arbeitsverhältnisses zum 30.6.2018. Der Kläger bezog ab 1.10.2015 nur noch ein Entgelt in Höhe von 85 Prozent des vorherigen Nettoarbeitsentgelts. Das beitragspflichtige Bruttoarbeitsentgelt des Klägers innerhalb des letzten Jahres des Arbeitsverhältnisses betrug 28 103,41 Euro. Als fiktives volles Bruttoarbeitsentgelt (mit Einmalzahlungen) ist von der Arbeitgeberin für diesen Zeitraum ein Betrag von 56 156,82 Euro bescheinigt worden. Der Kläger war ab 1.7.2018 zum Bezug einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen berechtigt.

Am 11.5.2018 meldete sich der Kläger mit Wirkung zum 1.7.2018 bei der Beklagten persönlich arbeitslos. Diese entschied zunächst vorläufig unter Gewährung eines Vorschusses über den Anspruch auf Alg (Bescheid vom 2.7.2018) und setzte die Leistungen für die Zeit ab 1.7.2018 sodann auf der Grundlage des letzten tatsächlichen Arbeitsentgelts in Höhe eines täglichen Leistungssatzes von 31,07 Euro abschließend fest (Bescheid vom 10.9.2018 und Änderungsbescheid vom 12.9.2018; Widerspruchsbescheid vom 12.11.2018). Wegen einer stationären Rehabilitationsmaßnahme mit Anspruch auf Übergangsgeld hob die Beklagte die Leistungsbewilligung für die Zeit ab 25.9.2018 auf (Bescheid vom 26.10.2018).

Mit seiner Klage macht der Kläger höheres Alg auf der Grundlage einer Bemessung nach dem fiktiven Bruttoarbeitsentgelt mit Einmalzahlungen im letzten Jahr des Arbeitsverhältnisses geltend. Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 19.5.2020), das LSG die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20.1.2021). Das Bemessungsentgelt sei nach § 151 Abs 1 Satz 1 SGB III iVm § 10 Abs 1 Satz 2 AltTZG anhand des tatsächlich erzielten Entgelts im einjährigen Bemessungszeitraum vor dem 1.7.2018 zu berechnen. Die Regelung des § 150 Abs 2 Satz 1 Nr 5 SGB III finde keine Anwendung, denn der Ausnahmetatbestand des § 150 Abs 2 Satz 2 SGB III sei erfüllt; die Arbeitszeitreduktion des Klägers beruhe auf der Altersteilzeitvereinbarung. Auch eine Erhöhung des Bemessungsentgelts nach § 10 Abs 1 Satz 1 AltTZG scheide aus, denn der Kläger habe ab 1.7.2018 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen in Anspruch nehmen können. Weder der Ausnahmetatbestand des § 150 Abs 2 Satz 2 SGB III noch die Bemessung von Alg nach § 10 Abs 1 Satz 2 AltTZG verstoße gegen Art 3 Abs 1 GG. Es liege bereits keine Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Gruppen vor.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Art 2 Abs 1 und Abs 2 Buchst b der Richtlinie 2000/78/EG sowie des Art 3 Abs 3 Satz 2 GG. Die Regelung des § 10 Abs 1 Satz 2 AltTZG führe zu einer mittelbaren Diskriminierung schwerbehinderter Arbeitnehmer. Diese schieden infolge der früheren Rentenzugangsmöglichkeit nach § 236a Abs 1 Satz 2 SGB VI bereits zu einem früheren Zeitpunkt aus der privilegierten Berechnung von Alg aus, was dazu führe, dass sich der Anspruch auf Alg nicht nach dem - höheren - fiktiven Bruttoarbeitsentgelt mit Einmalzahlungen bemesse.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Januar 2021 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 19. Mai 2020 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 10. September 2018 und des Änderungsbescheids vom 12. September 2018, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. November 2018, zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. Juli bis 24. September 2018 höheres Arbeitslosengeld auf der Grundlage einer Bemessung nach dem fiktiven Bruttoarbeitsentgelt mit Einmalzahlungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. Die Richtlinie 2000/78/EG sei auf den Streitfall nicht anwendbar und auch eine Verletzung von Art 3 GG liege nicht vor.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Der Senat vermag auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden, ob dem Kläger für den streitbefangenen Zeitraum vom 1.7. bis 24.9.2018 ein Anspruch auf Alg und ggf in welcher Höhe zusteht.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 10.9.2018 und der Änderungsbescheid vom 12.9.2018, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.11.2018 (§ 95 SGG), soweit durch diese Bescheide Alg für den Zeitraum vom 1.7. bis 24.9.2018 endgültig in der festgesetzten Höhe bewilligt wurde. Die Entscheidung über die Leistungsgewährung als Vorschuss durch Bescheid vom 2.7.2018 wurde durch die endgültige Festsetzung ersetzt und erledigte sich iS des § 39 Abs 2 SGB X (BSG vom 9.5.1996 - 7 RAr 36/95 - SozR 3-4100 § 112 Nr 28 S 126 f, juris RdNr 21; BSG vom 31.5.1989 - 4 RA 19/88 - SozR 1200 § 42 Nr 4 S 17, juris RdNr 23). Dagegen ist der Bescheid vom 26.10.2018 (Aufhebung ab 25.9.2018) schon wegen der Begrenzung des Begehrens auf die Zeit bis 24.9.2018 nicht streitbefangen.

Der Kläger verfolgt seinen Anspruch zulässigerweise im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 iVm Abs 4 SGG), gerichtet auf Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 SGG), denn mit Wahrscheinlichkeit kann von höheren Leistungen ausgegangen werden, wenn dem Klagebegehren gefolgt wird (vgl nur BSG vom 18.5.2010 - B 7 AL 49/08 R - SozR 4-4300 § 122 Nr 8 RdNr 9).

2. Die Feststellungen des LSG reichen allerdings nicht aus, um abschließend zu entscheiden. Der Kläger erfüllt zwar die Anspruchsvoraussetzungen für Alg. Nach dem Gesamtzusammenhang der bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat er sich am 11.5.2018 mit Wirkung zum 1.7.2018 arbeitslos gemeldet (§ 137 Abs 1 Nr 2, § 141 SGB III), die Anwartschaftszeit erfüllt (§ 137 Abs 1 Nr 3, § 142 SGB III) und war auch arbeitslos (§ 137 Abs 1 Nr 1, § 138 SGB III). Es fehlen aber notwendige Feststellungen, welche es erlauben zu beurteilen, ob der Anspruch auf Alg im gesamten streitbefangenen Zeitraum oder jedenfalls zeitweise wegen einer Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung und/oder einer Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe (hierzu 3.) geruht hat. Letzteres hängt von dem genauen Inhalt der Vereinbarung vom 23.6.2015 und deren konkreter Umsetzung ab 1.10.2015 ab, was weiter aufzuklären ist (hierzu 4.). Die Klage auf höheres Alg wäre jedenfalls für einen Ruhenszeitraum unbegründet. Sollte der Anspruch auf Alg nach dem Ergebnis der weiteren Ermittlungen nicht oder nur zeitweise geruht haben, fehlen zudem Feststellungen, die eine abschließende Beurteilung der Bemessung und damit der Höhe des Anspruchs auf Alg ermöglichen (hierzu 5. bis 9.).

3. Der Anspruch auf Alg ruht nach § 159 Abs 1 Satz 1 SGB III für die Dauer einer Sperrzeit, wenn sich ein Arbeitnehmer versicherungswidrig verhalten hat, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. Bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen tritt eine Sperrzeit kraft Gesetzes ein, ohne dass es eines entsprechenden Ausspruchs durch Verwaltungsakt bedarf (stRspr; vgl nur zuletzt BSG vom 27.6.2019 - B 11 AL 17/18 R - BSGE 128, 262 = SozR 4-4300 § 159 Nr 8, RdNr 19; BSG vom 13.3.2018 - B 11 AL 12/17 R - BSGE 125, 170 = SozR 4-4300 § 159 Nr 5, RdNr 16 mwN). Vorliegend kommt sowohl eine Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung (hierzu a) als auch eine Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe (hierzu b) in Betracht.

a) Versicherungswidriges Verhalten liegt nach § 159 Abs 1 Satz 2 Nr 7 SGB III (ab 1.8.2019: Nr 9; Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung) vor, wenn der Arbeitslose der ihm obliegenden Meldepflicht nach § 38 SGB III nicht nachgekommen ist. Nach § 38 Abs 1 Satz 1 SGB III sind Personen, deren Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis endet, verpflichtet, sich spätestens drei Monate vor dessen Beendigung persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG hat sich der Kläger erst am 11.5.2018 und damit nicht - wie gesetzlich gefordert - drei Monate vor Beendigung des der Versicherungspflicht unterliegenden Beschäftigungsverhältnisses zum 30.6.2018 bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend gemeldet. Ob der Kläger seiner Obliegenheit zur frühzeitigen Meldung auch subjektiv vorwerfbar nicht nachgekommen ist oder ob er sich jedenfalls für sein pflichtwidriges Verhalten auf einen wichtigen Grund iS des § 159 Abs 1 Satz 1 SGB III berufen kann (vgl BSG vom 13.3.2018 - B 11 AL 12/17 R - BSGE 125, 170 = SozR 4-4300 § 159 Nr 5, RdNr 12 ff), lässt sich nach den Feststellungen des LSG indessen nicht beurteilen. Entsprechende Ermittlungen wird das LSG im wiedereröffneten Verfahren nachzuholen haben. Die Dauer einer Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung beträgt eine Woche (§ 159 Abs 6 SGB III).

b) Versicherungswidriges Verhalten liegt nach § 159 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB III (Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe) auch vor, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat. Der Kläger hat hier durch die Umwandlung seines unbefristeten in ein befristetes Arbeitsverhältnis sein Beschäftigungsverhältnis gelöst und damit nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG - mangels Anhaltspunkten für ein Anschlussarbeitsverhältnis - seine...

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