Urteil Nr. B 12 R 18/19 R des Bundessozialgericht, 2021-04-27

Judgment Date27 Abril 2021
ECLIDE:BSG:2021:270421UB12R1819R0
Judgement NumberB 12 R 18/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein Westfalen vom 29. Mai 2019 aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 20. Oktober 2015 wird zurückgewiesen, soweit die Nachforderung für den Beigeladenen zu 3. in Höhe von 1566,96 Euro betroffen ist.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in allen Rechtszügen mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert wird für das Revisionsverfahren auf 1566,96 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Streitig ist die Nachforderung von Gesamtsozialversicherungs- und Umlagebeiträgen für den Beigeladenen zu 3. (im Folgenden: Beigeladener) iH von insgesamt 1566,96 Euro für die Zeit vom 1.1.2010 bis zum 31.10.2011 sowie vom 1.12.2011 bis zum 31.10.2012.

Die Klägerin betreibt mit behördlicher Erlaubnis Arbeitnehmerüberlassung. Der Beigeladene wurde von ihr im streitigen Zeitraum der KG (M KG) als Staplerfahrer überlassen. Ein vergleichbarer Staplerfahrer aus deren Stammbelegschaft erhielt nach einer vom LSG eingeholten Auskunft einen Stundenlohn inklusive Lohnzuschlägen von ca 9,50 Euro. In dem von der Klägerin und dem Beigeladenen abgeschlossenen "Arbeitsvertrag für Zeitarbeitnehmer" vom 5.11.2008 waren die einschlägigen Tarifverträge zwischen der Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) und dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister eV (AMP) für anwendbar erklärt worden. Am 22.4.2010 vereinbarten sie entsprechend einem von der Klägerin verwendeten Musteranstellungsvertrag rückwirkend zum 1.1.2010:

"Auf das Arbeitsverhältnis finden die zwischen dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister e.V. (AMP) einerseits und der Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP), der Christlichen Gewerkschaft Metall (CGM), der DHV - Die Berufsgewerkschaft e.V. (DHV), dem Beschäftigtenverband Industrie, Gewerbe, Dienstleistung (BIGD), dem Arbeitnehmerverband land- und ernährungswirtschaftlicher Berufe (ALEB), medsonet - Die Gesundheitsgewerkschaft (medsonet) andererseits abgeschlossenen Tarifverträge, derzeit bestehend aus Manteltarifvertrag, Manteltarifvertrag für die Auszubildenden, Entgeltrahmentarifvertrag, Entgelttarifverträge West und Ost sowie Beschäftigungssicherungstarifvertrag, in ihrer jeweils gültigen Fassung Anwendung."

Auf dieser Grundlage erhielt der Beigeladene im streitigen Zeitraum einen Stundenlohn iH von zunächst 7,99 Euro, ab 1.10.2010 iH von 8,22 Euro und ab 1.7.2011 iH von 8,38 Euro.

Nach einer Betriebsprüfung für die Jahre 2010 bis 2013 forderte die Beklagte nach Anhörung der Klägerin weitere Gesamtsozialversicherungs- und Umlagebeiträge iH von insgesamt 43 497,76 Euro, davon 1566,96 Euro für den Beigeladenen. Wegen der Unwirksamkeit der Tarifvertragsklausel ergebe sich nach dem "equal-pay"-Grundsatz für die verliehenen Arbeitnehmer ein höherer Vergütungsanspruch und damit eine höhere Bemessungsgrundlage für die Sozialversicherungsbeiträge (Bescheid vom 4.12.2014; Widerspruchsbescheid vom 20.5.2015). Das Personal der Klägerin hatte zuvor telefonisch von dem Entleihunternehmen die Vergleichslöhne für Staplerfahrer erfragt und mit "9,00 - 9,30" Euro pro Stunde vermerkt. Dem Beigeladenen ordnete die Beklagte einen Mittelwert von 9,15 Euro zu.

Das SG Detmold hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 20.10.2015). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat die Nachforderung für den Beigeladenen von dem ursprünglichen Verfahren abgetrennt und insoweit das Urteil des SG sowie die Verwaltungsentscheidungen der Beklagten aufgehoben. Die Klägerin sei zu Unrecht vom "equal-pay"-Grundsatz abgewichen. Eine Bezugnahme auf mehrgliedrige Tarifverträge sei unwirksam; die Klägerin könne sich auch nicht auf Vertrauensschutz berufen. Allerdings sei die Schätzung wegen Verletzung der Amtsermittlungspflicht rechtswidrig. Die Beklagte hätte ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand die maßgebenden Entgeltansprüche durch Anfrage bei dem Leihunternehmen aufklären können (Urteil vom 29.5.2019).

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 28f Abs 2 Satz 2 SGB IV. Das LSG habe die Anforderungen an den Amtsermittlungsgrundsatz überspannt. Es sei nicht ermessensfehlerhaft, wenn sich die an der Betriebsprüfung Beteiligten darauf verständigten, auf die plausiblen und sachgerechten Erkenntnisse des Arbeitgebers zu vertrauen. Selbst wenn aber die Aufklärungspflicht verletzt worden sei, hätte das LSG das Urteil des SG und die Verwaltungsentscheidungen der Beklagten nicht aufheben dürfen, sondern aufgrund eigener Ermittlungen entscheiden müssen. Eine Schlechterstellung der Klägerin sei wegen des Verböserungsverbots unzulässig.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Mai 2019 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 20. Oktober 2015 bezüglich der Nachforderung für den Beigeladenen zu 3. in Höhe von 1566,96 Euro zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung im Ergebnis für zutreffend.

Die Beigeladenen stellen keinen Anträge.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das LSG hat zu Unrecht das die Klage abweisende Urteil des SG vom 20.10.2015 aufgehoben. Der Bescheid der Beklagten vom 4.12.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.5.2015 (§ 95 SGG) ist formal-rechtlich nicht zu beanstanden (dazu A.). In der Sache hat die Beklagte zu Recht angenommen, dass die Klägerin nicht vom "equal-pay"-Gebot abweichen durfte und daher höhere Sozialversicherungs- und Umlagebeiträge zu zahlen hatte (dazu B.). Entgegen der Ansicht des LSG sind hier die Voraussetzungen für die Schätzung des Vergleichslohns noch als erfüllt anzusehen (dazu C.).

A. Für den Erlass des die Beitragsfestsetzung regelnden Verwaltungsakts war die Beklagte sachlich zuständig. Nach § 28p Abs 1 Satz 1 und 5 SGB IV idF der Bekanntmachung vom 12.11.2009 (BGBl I 3710) prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllen, insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen (§ 28a SGB IV) mindestens alle vier Jahre, und erlassen im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung einschließlich der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern. Die Beklagte war als Rentenversicherungsträgerin auch zur Überwachung des Umlageverfahrens nach dem Aufwendungsausgleichsgesetz (AAG) und zum Erlass eines entsprechenden Umlagebescheids befugt. § 10 AAG stellt die Beiträge zum Ausgleichsverfahren insoweit den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung gleich (BSG Urteil vom 4.9.2018 - B 12 R 4/17 R - BSGE 126, 226 = SozR 4-7815 § 10 Nr 3, RdNr 10; BSG Urteil vom 26.9.2017 - B 1 KR 31/16 R - BSGE 124, 162 = SozR 4-7862 § 7 Nr 1, RdNr 11).

Der Prüfbescheid erging nach Anhörung (§ 24 Abs 1 SGB X) und bestimmt die Beitragsnachforderung personenbezogen, ein sog Summenbescheid liegt nicht vor. Die Leiharbeitnehmer und die auf sie jeweils entfallenden Teilbeträge sind in den Anlagen "Berechnung der Beiträge" und "Nachweis der Beiträge" zum Bescheid getrennt nach den Versicherungszweigen und den zuständigen Einzugsstellen ausgewiesen. Die Beklagte hat in ihrem Bescheid auf diese Anlagen unter der Überschrift "Anlagen" ausdrücklich hingewiesen (vgl BSG Urteil vom 4.9.2018 - B 12 R 4/17 R - BSGE 126, 226 = SozR 4-7815 § 10 Nr 3, RdNr 11 mwN).

B. Die Beklagte hat die Nachforderung für den Beigeladenen zu Recht festgesetzt. Der Bemessung der Beiträge ist nicht das dem Beigeladenen zugeflossene Arbeitsentgelt, sondern das nach dem Entstehungsprinzip arbeitsrechtlich geschuldete Arbeitsentgelt zugrunde zu legen (dazu 1.). Dieses richtet sich hier nach dem "equal-pay"-Gebot, das den Verleiher verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit seiner Überlassung das vom Entleiher für einen vergleichbaren Arbeitnehmer gewährte Entgelt zu zahlen. Zu einer hiervon abweichenden Schlechterstellung aufgrund eines Tarifvertrags war die Klägerin nicht berechtigt (dazu 2.). Auf ein etwaiges Vertrauen in die Tariffähigkeit der CGZP oder in die Wirksamkeit der Bezugnahmeklausel aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung kann sich die Klägerin nicht berufen (dazu 3.). Auch ein Vertrauensschutz auf europarechtlicher Grundlage besteht nicht (dazu 4.).

1. Maßgebend für die Beitragsbemessung ist das dem Beigeladenen nach dem Entstehungsprinzip arbeitsrechtlich geschuldete Arbeitsentgelt (zur Anwendbarkeit dieses Prinzips im Zusammenhang mit "equal-pay" BSG Urteil vom 4.9.2018 - B 12 R 4/17 R - BSGE 126, 226 = SozR 4-7815 § 10 Nr 3, RdNr 14 ff). Arbeitgeber haben darauf für versicherungspflichtig Beschäftigte den Gesamtsozialversicherungsbeitrag zu zahlen (§ 28d Satz 1 und 2, § 28e Abs 1 Satz 1 SGB IV idF der Bekanntmachung vom 12.11.2009, BGBl I 3710). Bei - wie hier - erlaubter Arbeitnehmerüberlassung (vgl § 1 Abs 1 Satz 1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz AÜG> idF des Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung vom 24.3.1997 BGBl I 594> und idF des Ersten Gesetzes zur Änderung des AÜG - Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung vom 28.4.2011 BGBl I 642>) ist Arbeitgeber und originärer Beitragsschuldner der Verleiher (vgl zur Arbeitgebereigenschaft und Zahlungspflicht im Fall illegaler Arbeitnehmerüberlassung nach § 9 Abs 1 Nr 1 AÜG: Werner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl 2016, § 28e RdNr 68 ff, Stand 1.3.2016). Der Beitragsbemessung liegt in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung das Arbeitsentgelt aus der...

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