Urteil Nr. B 12 KR 5/20 R des Bundessozialgericht, 2022-06-28

Judgment Date28 Junio 2022
ECLIDE:BSG:2022:280622UB12KR520R0
Judgement NumberB 12 KR 5/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Betriebsprüfung - Beitragsnachforderung - Durchsetzung der zivilrechtlichen Haftung eines Gesellschafters einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts für Beitragsschulden der Gesellschaft - Befugnis zum Erlass eines Haftungsverwaltungsaktes
Leitsätze

Persönlich haftende Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts können für die Beitragsschulden der Gesellschaft einschließlich etwaiger Säumniszuschläge im Wege eines Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. Dezember 2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert wird für das Revisionsverfahren auf 121 832,86 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines gegenüber einer Gesellschafterin einer Außengesellschaft bürgerlichen Rechts erlassenen Haftungsbescheids für Beitragsschulden der Gesellschaft.

Die Klägerin und ihr Ehemann waren seit 1.1.2002 die Gesellschafter der R GbR (im Folgenden: GbR). Unternehmensgegenstand war ua der An- und Verkauf von Telekommunikationsverträgen sowie die Verlagswerbung mittels Haustürwerbung (sog "Drückerkolonnen"). Zu diesem Zweck wurden zahlreiche sog Werber und Teileleute als selbstständige Handelsvertreter eingesetzt. Sozialversicherungsbeiträge wurden nicht abgeführt. Sowohl die Klägerin als auch ihr Ehemann wurden insoweit rechtskräftig wegen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266a Strafgesetzbuch (StGB) verurteilt (AG Landshut Urteil vom 28.11.2011 - 01 LS35Js 28514/08).

Nach Auflösung der GbR zum 1.7.2009 forderte die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) zunächst mit jeweils an die Gesellschafter der GbR persönlich adressierten Bescheiden vom 21.9.2011 Gesamtsozialversicherungsbeiträge und Säumniszuschläge in Höhe von (iHv) 1 196 600,94 Euro nach. Den an den Ehemann der Klägerin gerichteten Bescheid hob die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem SG Landshut (S 13 R 5022/12) am 11.8.2014 auf. Anschließend machte die DRV Bund den Nachforderungsbetrag gegenüber der GbR geltend (Bescheid vom 19.3.2015, Widerspruchsbescheid vom 18.8.2015). Das SG Landshut hob die Bescheide auf, soweit nicht 12 im Einzelnen bezeichnete Personen betroffen waren, und wies die Klage im Übrigen ab (Urteil vom 22.3.2018 - S 1 R 5091/15). Die Berufung der GbR war ebenso erfolglos (Bayerisches LSG Urteil vom 13.10.2021 - L 6 BA 86/18) wie die anschließende Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision (Senatsbeschluss vom 2.3.2022 - B 12 R 40/21 B).

Nachdem die beklagte Krankenkasse als Einzugsstelle zunächst mit Schreiben vom 26.3., 4.5. und 26.8.2015 die GbR zur Zahlung rückständiger Sozialversicherungsbeiträge aufgefordert hatte, setzte sie nach vorheriger Anhörung (Schreiben vom 17.5.2016) gegenüber der Klägerin als persönlich haftende Gesellschafterin der GbR Sozialversicherungsbeiträge, Säumniszuschläge und Mahngebühren für die Zeit vom 1.5.2003 bis zum 30.4.2009 iHv 121 832,86 Euro fest (Bescheid vom 10.6.2016, Widerspruchsbescheid vom 20.10.2016). Ein gleichlautender Bescheid erging auch gegenüber dem Ehemann der Klägerin.

Das SG Landshut hat den von der Klägerin angefochtenen Bescheid aufgehoben (Urteil vom 5.9.2018). Die Berufung der Beklagten hat das Bayerische LSG zurückgewiesen (Urteil vom 17.12.2019). Für den Erlass des streitgegenständlichen Haftungsbescheids fehle es an der erforderlichen, dem Gebot der Normenklarheit entsprechenden Rechtsgrundlage. §§ 28e, 28h und 28p SGB IV richteten sich allein an Arbeitgeber, damit an die GbR und nicht deren Gesellschafter. Auch finde sich kein Verweis auf den steuerrechtlichen Haftungsbescheid nach § 191 Abgabenordnung (AO). Das über § 66 SGB X in Bezug genommene Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz ermächtige nicht zum Erlass eines für die Vollstreckung erforderlichen Leistungsbescheids. Die zivilrechtliche Haftungsnorm des § 128 Handelsgesetzbuch (HGB) regele ebenfalls nicht die Befugnis, durch Verwaltungsakt zu handeln. Ansprüche daraus seien vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen. Davon sei auch der Gesetzgeber ausgegangen. Die im Entwurf der Bundesregierung über das SGB IV-Einordnungsgesetz vom 2.5.1988 (BT-Drucks 11/2221) in § 28e Abs 4 SGB IV vorgesehene Regelung einer Beitragshaftung der gesetzlichen Vertreter natürlicher und juristischer Personen sowie der Geschäftsführer von nichtrechtsfähigen Personenvereinigungen sei im weiteren Gesetzgebungsverfahren gestrichen worden. Unabhängig davon habe die Beklagte bei der Auswahl und Inanspruchnahme der Klägerin kein Ermessen ausgeübt. Ein etwaig zu prüfender "eingebetteter" Schadensersatzanspruch sei nach § 199 Abs 1 BGB verjährt.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte insbesondere einen Verstoß gegen §§ 28d, 28e und 28h SGB IV sowie § 128 HGB. Diese Vorschriften würden es erlauben, die Klägerin als Haftungsschuldnerin in Anspruch zu nehmen. Die Forderung des LSG nach einer weitergehenden Haftungsnorm stehe nicht in Einklang mit der Rechtsprechung des BSG. Der Haftungsanspruch sei auch nicht verjährt.

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. Dezember 2019 sowie des Sozialgerichts Landshut vom 5. September 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. Aus der Subsidiarität der Haftung der Klägerin für den Beitragsanspruch gegen die GbR folge, dass die Beklagte die Klägerin nicht durch Verwaltungsakt in Haftung nehmen könne. Es fehle im Sinne der Rechtsprechung des BVerwG (vgl Beschluss vom 5.6.2019 - 7 B 18/18) an einer Transformationsnorm, welche die nur zivilrechtliche Haftung nach § 128 HGB in ein öffentlich-rechtliches Handlungsregime überführe. Der Haftungsanspruch sei im Übrigen nach § 159 HGB verjährt.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Beklagte war befugt, die Klägerin als ehemalige Gesellschafterin der GbR für deren Beitragsschulden durch Verwaltungsakt in Haftung zu nehmen (dazu 1.). Der Bescheid vom 10.6.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.10.2016 ist auch nicht wegen fehlender Ermessensausübung rechtswidrig (dazu 2.). Der Senat kann aufgrund der bisherigen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) aber nicht abschließend entscheiden, ob der von der Klägerin angegriffene Haftungsbescheid hinsichtlich der festgesetzten Sozialversicherungsbeiträge, Säumniszuschläge und Mahngebühren rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (dazu 3).

1. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen war die Beklagte befugt, die Haftung der Klägerin für die Beitragsschulden der GbR durch Verwaltungsakt - als auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtete hoheitliche Maßnahme einer Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts (§ 31 Satz 1 SGB X in der Fassung idF> der Bekanntmachung vom 18.1.2001, BGBl I 130) - zu regeln. Der Senat hat bereits wiederholt entschieden, dass eine Einzugsstelle zum Erlass eines Verwaltungsakts berechtigt ist, mit dem die Haftung eines Dritten für die vom Arbeitgeber geschuldeten Gesamtsozialversicherungsbeiträge festgestellt wird (vgl zur Haftung des entgeltlichen Entleihers BSG Urteil vom 7.3.2007 - B 12 KR 11/06 R - SozR 4-2400 § 28e Nr 1), selbst wenn die Haftung auf zivilrechtlichen Vorschriften beruht (vgl zur Haftung des Komplementärs einer KG nach §§ 128, 161 HGB BSG Urteil vom 20.7.1988 - 12 RK 53/86 - juris; zur Haftung der Gesellschafter für Verbindlichkeiten einer Vor-GmbH nach § 123 Abs 2, § 128 HGB BSG Urteil vom 8.12.1999 - B 12 KR 10/98 R - BSGE 85, 192 = SozR 3-2400 § 28e Nr 1; zur Haftung der Genossen einer Vorgenossenschaft nach § 128 HGB BSG Urteil vom 8.12.1999 - B 12 KR 18/99 R - BSGE 85, 200 = SozR 3-2400 § 28e Nr 2). An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch für den vorliegenden Fall fest. Der streitige Haftungsbescheid wurde im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses (dazu a) aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage erlassen (dazu b).

a) Das Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin und der Beklagten ist öffentlich-rechtlicher Natur, obwohl sich die Haftung der Klägerin als Gesellschafterin einer GbR für deren Beitragsschuld aus der analogen Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Vorschrift des § 128 Satz 1 HGB (idF vom 1.1.1964, BGBl III 1964) Danach haften die Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft den Gläubigern als Gesamtschuldner persönlich. Diese für die Offene Handelsgesellschaft (OHG) unmittelbar geltende Regelung ist auf eine Außen-GbR entsprechend anwendbar (vgl grundlegend BGH Urteil vom 29.1.2001 - II ZR 331/00 - BGHZ 146, 341, juris RdNr 39; Karsten Schmidt/Drescher in MüKo-HGB, 5. Aufl 2022, § 128 RdNr 4 mwN) und gilt auch für Ansprüche gegen die Gesellschaft aus öffentlichem Recht (vgl zur Haftung des Komplementärs nach §§ 128, 161 HGB für Beitragsschulden BSG Urteil vom 20.7.1988 - 12 RK 53/86 - juris RdNr 22 mwN; Karsten Schmidt/Drescher, aaO, § 128 RdNr 10; vgl zur Haftung nach § 128 HGB für Steuerschulden BVerwG Urteil vom 14.10.2015 - 9 C 11/14 - BVerwGE 153, 109; BFH Urteil vom 9.5.2006 - VII R 50/05 - BFHE 213, 194). § 128 Satz 1 HGB analog ordnet hier gegenüber der Beklagten als zuständiger Einzugsstelle für rückständige Gesamtsozialversicherungsbeiträge eine Haftung der Klägerin für die von der GbR nicht erfüllte Forderung an. Bei dieser Forderung handelt es sich (weiterhin) um die originäre öffentlich-rechtliche Beitragsforderung der Beklagten gegen die GbR. Damit besteht eine Identität des Haftungsinteresses mit demselben öffentlich-rechtlichen Beitragsanspruch, den auch der Arbeitgeber schuldet (vgl Werner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, § 28e RdNr 48, Stand 1.8.2021).

Die...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT