Urteil Nr. B 14 AS 25/20 R des Bundessozialgericht, 2021-01-27

Judgment Date27 Enero 2021
ECLIDE:BSG:2021:270121UB14AS2520R0
Judgement NumberB 14 AS 25/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche - Unionsbürger - anderes Aufenthaltsrecht - Arbeitnehmerstatus - Aufenthaltsrecht aus Artikel 10 VO (EU) Nr 492/2011 - sozialgerichtliches Verfahren - notwendige Beiladung des Sozialhilfeträgers
Leitsätze

1. Maßgeblich für die Beurteilung des Arbeitnehmerstatus im Sinne des Unionsrechts sind nur die objektiven Umstände; die Motive für den Abschluss eines Arbeitsvertrags sind insoweit unerheblich.

2. Die Prüfung eines Rechtsmissbrauchs ist von der Beurteilung des Arbeitnehmerstatus zu trennen.

3. Der Sozialhilfeträger ist in Streitigkeiten um existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II auch dann notwendig beizuladen, wenn Ansprüche auf Sozialhilfe für Ausländer als Überbrückungsleistungen in Betracht kommen.

Tenor

Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Dezember 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Im Streit stehen existenzsichernde Leistungen für EU-Ausländer vom 1.3. bis 31.8.2017.

Die 1981 geborene Klägerin zu 1 ist die Mutter des 2003 geborenen Klägers zu 2 und der 2004 geborenen Klägerin zu 3. Sie sind bulgarische Staatsangehörige. Die Kinder sind Halbwaisen. Die schwerbehinderte Klägerin zu 1 ist wegen Schizophrenie und Epilepsie in ärztlicher Behandlung. Sie hat keinen Beruf erlernt und in Bulgarien nicht gearbeitet. Die Kläger reisten nach eigenen Angaben im April 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Klägerin zu 1 gab an, dass sie ein besseres Leben erwartet und Hilfe gebraucht habe, um sich behandeln zu lassen. Sie habe eine Arbeit suchen wollen und die Kinder sollten eine Schule besuchen können. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, sei sie von einer Unterstützung durch die Stadt oder den Staat ausgegangen. Der Kläger zu 2 und die Klägerin zu 3 besuchen seit Anfang 2014 durchgehend die Schule. Die Klägerin zu 1 bezog bis Anfang März 2016 eine befristete bulgarische Invaliditätsrente. Sie war von November 2014 bis Februar 2015 beim Zeugen T als Helferin in einem Lebensmittelgeschäft gegen ein geringfügiges Entgelt beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung. Für den Kläger zu 2 und die Klägerin zu 3 wurde Kindergeld gezahlt.

Zwischen den Klägern und dem beklagten Jobcenter war zunächst streitig, ob die Kläger Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hatten; sie erhielten Regelleistungen aufgrund gerichtlicher Entscheidungen. Ab November 2014 bewilligte der Beklagte den Klägern Alg II bzw Sozialgeld, zuletzt bis Februar 2017 (Änderungsbescheid vom 13.12.2016). Den Folgeantrag lehnte er ab, weil die Kläger aufgrund einer zwischenzeitlichen Gesetzesänderung von Leistungen ausgeschlossen seien (Bescheid vom 22.2.2017; Widerspruchsbescheid vom 10.7.2017). Zwischenzeitlich verpflichtete das SG den Beklagten zur vorläufigen Zahlung von Leistungen in Höhe der für Februar 2017 gewährten Leistungen ohne Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 22.3. bis 31.8.2017 (Beschluss vom 28.4.2017 - S 25 AS 1170/17 ER). Der Beklagte bewilligte ohne Bezugnahme auf das Eilverfahren vorläufig Leistungen für den vorgenannten Zeitraum in monatlich unterschiedlicher Höhe (Bescheid vom 19.5.2017).

Das SG hat die Klagen abgewiesen (Urteil vom 6.9.2018). Das LSG hat die Berufungen nach Vernehmung des Zeugen zurückgewiesen (Urteil vom 5.12.2019). Die Kläger seien von Leistungen ausgeschlossen. Es habe insbesondere kein Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 bestanden. Bei der viermonatigen Beschäftigung sei die Klägerin zu 1 nicht Arbeitnehmerin iS von Art 45 AEUV gewesen. Nach Art und Durchführung der Tätigkeit sei die Beschäftigung "vergönnungsweise" erfolgt, sodass es sich nicht um eine echte und tatsächliche Tätigkeit gehandelt habe; sie sei als untergeordnet und unwesentlich einzustufen gewesen. Eine Beiladung des Sozialhilfeträgers sei entbehrlich, weil die Leistungen nach § 23 SGB XII ein aliud gegenüber den Leistungen nach dem SGB II darstellten.

Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung von Art 10 VO (EU) Nr 492/2011. Der Begriff der Beschäftigung dürfe nicht nach den gleichen Kriterien ausgefüllt werden wie der Begriff der Arbeitnehmereigenschaft aus der Unionsbürgerrichtlinie. Daher sei das LSG zu Unrecht von einem Ausschlusstatbestand ausgegangen. Selbst wenn kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bestanden habe, seien allgemein Leistungen zur Existenzsicherung begehrt worden. Daher habe das LSG ihre Beiladungsanträge nicht übergehen dürfen.

Die Kläger beantragen,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Dezember 2019 und des Sozialgerichts Köln vom 6. September 2018 aufzuheben sowie den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 22. Februar 2017 und Änderung des Bescheids vom 19. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juli 2017 zu verurteilen, ihnen weitere Leistungen nach dem SGB II vom 1. März 2017 bis 31. August 2017 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässigen Revisionen der Kläger sind im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Nach den Feststellungen des LSG ist die Klägerin zu 1 Arbeitnehmerin gewesen. Ob sich die Kläger dennoch nicht auf ein Aufenthaltsrecht wegen des Schulbesuchs von Kindern als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigter EU-Ausländer berufen können, weil die Klägerin zu 1 ihren Status als Arbeitnehmerin missbräuchlich begründet hat, wird das LSG weiter aufzuklären haben.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen die Bescheide vom 22.2.2017 und 19.5.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.7.2017 sowie das Begehren der Kläger auf Zahlung weiterer Leistungen nach dem SGB II vom 1.3. bis 31.8.2017.

2. Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Zutreffende Klageart für das gegen den Beklagten gerichtete Begehren ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG). Die Klage erfasst auch den Bescheid vom 19.5.2017, weil dieser nach § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchs- und damit des Klageverfahrens geworden ist. Es handelt sich um einen Verwaltungsakt (§ 31 Satz 1 SGB X), weil er die Höhe der Individualansprüche nach dem Beschluss im Verfahren S 25 AS 1170/17 ER festlegt, obwohl dessen Regelungen nicht weiter zu konkretisieren waren (vgl BSG vom 18.9.2003 - B 9 V 82/02 B - RdNr 6). Er ist darüber hinaus kein sog Ausführungsbescheid, der als solcher den mit Widerspruch angegriffenen Bescheid vom 22.2.2017 nicht für die Zeit vom 22.3. bis zum 31.8.2017 abändern würde (vgl BSG vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 20/06 R - SozR 4-3500 § 90 Nr 1 RdNr 12). Dies ergibt sich nach Auslegung des Bescheids vom 19.5.2017 anhand des objektiven Empfängerhorizonts, zu der das BSG als Revisionsgericht befugt ist (dazu eingehend BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 9/17 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 21 ff), weil der Bescheid nicht ausdrücklich als Ausführungsbescheid bezeichnet ist und er die Höhe der Individualansprüche gegenüber dem Eilbeschluss abweichend, nämlich monatlich in unterschiedlicher Höhe, regelt.

3. Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Alg II/Sozialgeld sind §§ 7 ff, 19 ff SGB II in der Fassung, die das SGB II vor Beginn des Streitzeitraums zuletzt durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 22.12.2016 (BGBl I 3159) erhalten hat (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f).

Die Kläger erfüllten die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB II (dazu 4.). Sie sind nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, soweit sie sich auf ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 berufen konnten (dazu 5.). Der Kläger zu 2 und die Klägerin zu 3 besuchten die Schule und die Klägerin zu 1 war nach europarechtlichen Maßstäben Arbeitnehmerin (dazu 6.). Wegen fehlender Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen kann der Senat, ob es missbräuchlich ist, dass sich die Kläger auf das Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 berufen (dazu 7.).

4. Die Klägerin zu 1 ist nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt. Sie hatte das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht und hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Erwerbsfähigkeit ist, soweit wie hier kein Feststellungsverfahren (vgl § 44a SGB II) eingeleitet worden ist, bereits aus rechtlichen Gründen anzunehmen (vgl BSG vom 13.7.2017 - B 4 AS 17/16 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 54 RdNr 15; BSG vom 5.8.2015 - B 4 AS 9/15 R - RdNr 14 mwN). Der Kläger zu 2 und die Klägerin zu 3 haben das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet und können als minderjährige, dem Haushalt der Klägerin zu 1 angehörende Kinder ohne bedarfsdeckendes Einkommen und Vermögen einen Anspruch auf Sozialgeld haben (§ 7 Abs 3 Nr 4, §§ 19 Abs 1 Satz 2, 23 SGB II).

5. Die Kläger sind nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, soweit sie sich auf ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 berufen konnten. Ausschlusstatbestände nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 oder 3 SGB II kommen nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt von vornherein nicht in Betracht.

Nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst a und b SGB II sind "ausgenommen" - also keine Leistungsberechtigten iS des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II und § 7 Abs 2 SGB II und ohne Leistungsberechtigung nach dem SGB II - Ausländer ohne Aufenthaltsrecht, sowie Ausländer, deren...

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