Urteil Nr. B 14 AS 21/20 R des Bundessozialgericht, 2021-12-14

Judgment Date14 Diciembre 2021
ECLIDE:BSG:2021:141221UB14AS2120R0
Judgement NumberB 14 AS 21/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. November 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über Leistungen zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft nach § 28 Abs 7 SGB II.

Die 2001 geborene Klägerin lebte im Sommer 2016 mit ihrer Mutter und ihren drei Geschwistern zusammen und bezog vom Jobcenter L, bei dem es sich um eine gemeinsame Einrichtung handelt, Alg II. Das Jobcenter L hatte mit der Stadt L als dem beklagten kommunalen Träger auf der Grundlage eines Beschlusses der Trägerversammlung eine Vereinbarung über die Wahrnehmung der Aufgaben nach §§ 28 bis 30 SGB II abgeschlossen (Vertrag vom 10.12.2014). Inhalt dieser Vereinbarung ist die Erbringung von Bildungs- und Teilhabeleistungen (einschließlich Leistungen nach § 28 Abs 7 SGB II) durch den kommunalen Träger im eigenen Namen einschließlich der Entscheidung über Widersprüche.

Die Mutter der Klägerin stellte am 22.6.2016 für ihre Tochter einen Antrag auf Bedarfsanerkennung zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben für das Sommercamp der Jugendorganisation "REBELL" der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) vom 30.7. bis 13.8.2016 in T/Thüringen. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, der Jugendverband "REBELL" werde als linksextremistische Organisation vom Verfassungsschutz beobachtet, weshalb seine Geeignetheit als Leistungsanbieter iS des § 29 Abs 2 SGB II nicht festgestellt werden könne. Dies entspreche der Arbeitshilfe "Bildungs- und Teilhabepaket" des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, wonach extremistische Vereinigungen und Sekten als Anbieter nicht geeignet seien (Bescheid vom 29.6.2016; Widerspruchsbescheid vom 18.10.2016).

Das SG hat die Beklagte entsprechend dem Klageantrag der Klägerin verurteilt, ihr für das Jahr 2016 Bedarfe für Bildung und Teilhabe nach § 28 Abs 7 SGB II iHv 120 Euro für die Teilnahme an einer Freizeit zu gewähren (Urteil vom 6.6.2018). Die fehlende Geeignetheit zur Erbringung von Teilhabeleistungen stehe einem Anspruch nur dann entgegen, wenn ein Vereinsverbot ausgesprochen bzw eine Partei vom BVerfG verboten sei oder sich der Anbieter bekanntermaßen der Gewalt verschrieben habe. Dies liege im Hinblick auf den Jugendverband "REBELL" nicht vor. Das LSG hat das Urteil des SG auf die Berufung der Beklagten geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 7.11.2019). Bei den von der Klägerin geltend gemachten Kosten handele es sich nicht um einen Bedarf iS des § 28 Abs 7 SGB II. Der Anspruch diene der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft. Die (partei-)politische Teilhabe fiele nicht hierunter. Dies folge auch aus dem staatlichen Neutralitätsgebot. Aus diesem Grund seien Freizeiten, die von Jugendorganisationen einer Partei organisiert würden, vom Begriff der Freizeit iS von § 28 Abs 7 Satz 1 Nr 3 SGB II nicht erfasst. Bei dem vom Jugendverband "REBELL" organisierten Sommercamp handele es sich um eine solche Freizeit. Neben der Einbindung der Teilnehmer in soziale Gemeinschaftsstrukturen habe es unstreitig einen politischen Bezug gehabt.

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 28 Abs 7 Satz 1 Nr 3 SGB II. Der gesetzgeberische Wille, auch Aktivitäten des (partei-)politischen Lebens fördern zu wollen, ergebe sich aus dem Regelungszusammenhang mit der im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe in § 83 Abs 1 Satz 2 SGB VIII normierten Verpflichtung zur Förderung der überregionalen Tätigkeit der Jugendorganisationen politischer Parteien auf dem Gebiet der Jugendarbeit. Die Angebote der Jugendarbeit nach dem SGB VIII und die Angebote nach § 28 Abs 7 SGB II verfolgten eine weitgehend identische, zumindest jedoch vergleichbare Zielsetzung. Das staatliche Neutralitätsgebot schließe eine Zuschussgewährung damit nicht aus, sondern verbiete umgekehrt - unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots - eine staatliche Parteinahme dergestalt, dass Freizeiten bestimmter Jugendorganisationen aus politischen oder weltanschaulichen Gründen von einer Förderung ausgenommen seien. Im Übrigen sei die Gewährung staatlicher Zuschüsse nach dem SGB VIII etwas anderes als die individuellen Rechtsansprüche der minderjährigen Leistungsberechtigten auf Sach- oder Geldleistungen nach dem SGB II, deren Verwendung der Dispositionsfreiheit ihrer Eltern als gesetzlicher Vertreter unterliege. Zuletzt hätten die während der Freizeit vermittelten politischen Bezüge und Inhalte allgemeinpolitischen und nicht parteipolitischen Charakter gehabt, weswegen das LSG den Anspruch zu Unrecht verneint habe.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. November 2019 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 6. Juni 2018 zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG vom 6.6.2018 im Ergebnis zu Recht geändert und die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung von Aufwendungen für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft nach § 28 Abs 7 SGB II.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid der Beklagten vom 29.6.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.10.2016, mit dem diese es abgelehnt hat, der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben für das von ihr besuchte Sommercamp zu gewähren. Zutreffend verfolgt die Klägerin ihr Begehren als gerichtlich isoliert durchsetzbaren Anspruch (ausführlich BSG vom 10.9.2013 - B 4 AS 12/13 R - SozR 4-4200 § 28 Nr 8 RdNr 14; BSG vom 5.7.2017 - B 14 AS 29/16 R - SozR 4-4200 § 28 Nr 10 RdNr 10).

2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere war die Berufung zulässig, nachdem das SG sie in seinem Urteil zugelassen hatte (vgl § 144 SGG). Die Klägerin verfolgt ihr Begehren zulässigerweise im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 iVm Abs 4, § 56 SGG). Zwar ist statthafte Klageart im Streit über Teilhabeleistungen nach § 28 Abs 7 SGB II regelmäßig die Verpflichtungsbescheidungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG), weil die Art und Weise der Leistungserbringung im (Auswahl-)Ermessen der Behörde steht. Nach § 29 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung (Bekanntmachung der Neufassung des SGB II vom 13.5.2011, BGBl I 850; jetzt § 29 Abs 1 Satz 2 SGB II idF des Starke-Familien-Gesetzes vom 29.4.2019, BGBl I 530) bestimmen die kommunalen Träger, in welcher Form sie die Leistungen erbringen. Verschafft sich die leistungsberechtigte Person - wie hier die Klägerin - die im Streit stehende Leistung endgültig selbst, richtet sich das Begehren auf Kostenerstattung und damit auf eine Geldleistung, die im Wege der Anfechtungs- und Leistungsklage zu verfolgen ist (vgl BSG vom 10.9.2013 - B 4 AS 12/13 R - SozR 4-4200 § 28 Nr 8 RdNr 16; vgl zur vergleichbaren Situation bei Erstausstattungsbedarfen nach § 24 Abs 3 SGB II BSG vom 19.8.2010 - B 14 AS 10/09 R - SozR 4-4200 § 23 Nr 10 RdNr 20; BSG vom 23.5.2013 - B 4 AS 79/12 R - SozR 4-4200 § 24 Nr 5 RdNr 11, 21).

3. Rechtsgrundlage eines Anspruchs der Klägerin auf Erstattung der Aufwendungen für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft ist § 30 Satz 1 iVm § 28 f SGB II sowie die §§ 19 ff iVm §§ 7 ff SGB II idF, die das SGB II zu Beginn der Freizeit als der maßgeblichen Bedarfslage durch das Gesetz zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen vom 1.4.2015 (BGBl I 434) erhalten hat (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f).

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft. Die Beklagte ist als kommunaler Träger aufgrund der Rückübertragung der Leistungszuständigkeit für Bedarfe nach § 28 Abs 7 SGB II zwar passivlegitimiert (hierzu 4.). Die Voraussetzungen des Anspruchs auf Erstattung von im Wege berechtigter Selbsthilfe erbrachter Aufwendungen nach § 30 Satz 1 SGB II liegen aber nicht vor, weil es an der Geeignetheit des Anbieters der begehrten Teilhabeleistung fehlt (hierzu 5. ff).

4. Der beklagte kommunale Träger ist passivlegitimiert. Zwar nimmt grundsätzlich das Jobcenter als gemeinsame Einrichtung die Aufgaben der Leistungsträger nach dem SGB II wahr (§ 44b Abs 1 Satz 2 SGB II). Gemäß § 44b Abs 4 SGB II (idF der Bekanntmachung vom 13.5.2011, BGBl I 850; jetzt § 44b Abs 4 Satz 1 SGB II idF des 9. SGB II-ÄndG vom 26.7.2016, BGBl I 1824) kann die gemeinsame Einrichtung aber einzelne Aufgaben auch durch die Träger wahrnehmen lassen. Die Entscheidung hierüber obliegt der Trägerversammlung der gemeinsamen Einrichtung (§ 44c Abs 2 Satz 2 Nr 4 SGB II). Ein solcher Beschluss liegt hier im Hinblick auf die Bedarfe nach § 28 Abs 2 und 4 bis 7 SGB II vor (zu den Anforderungen BSG vom 14.2.2018 - B 14 AS 12/17 R - BSGE 125, 137 = SozR 4-4200 § 44c Nr 1, RdNr 22 ff). In Umsetzung dieses Übertragungsbeschlusses hat das Jobcenter, vertreten durch seinen Geschäftsführer (§ 44d Abs 1 Satz 2 SGB II), mit der Beklagten am 15.12.2014 einen öffentlich-rechtlichen Vertrag abgeschlossen, wonach diese ua die Bedarfe nach § 28 Abs 7 SGB II im eigenen Namen erbringt, hierüber durch Verwaltungsakt entscheidet und sie zuständige Widerspruchsstelle ist.

Die auf der Grundlage des § 44b Abs 4 SGB II erfolgte Aufgabenübertragung war zulässig. § 44b Abs 4 SGB II ermöglicht die Zuweisung einzelner Aufgaben durch Auftrag (BSG vom...

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