Urteil Nr. B 2 U 6/17 R des Bundessozialgericht, 2018-03-20

Judgment Date20 Marzo 2018
ECLIDE:BSG:2018:200318UB2U617R0
Judgement NumberB 2 U 6/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Landwirtschaftliche Unfallversicherung - Verletztenrente - selbstständiger landwirtschaftlicher Unternehmer - Mindest-MdE gemäß § 80a Abs 1 SGB VII - Aufgabe der landwirtschaftlichen Tätigkeit vor Eintritt des Versicherungsfalls - Verfassungsmäßigkeit - keine Verletzung des Eigentumsgrundrechts und des allgemeinen Gleichheitssatzes - Weiterentwicklung und Reform des Rechts der landwirtschaftlichen Unfallversicherung durch das LSVMG - Stichtagsregelung
Leitsätze

Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Anspruch auf eine Verletztenrente eines selbstständigen landwirtschaftlichen Unternehmers eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht nur von 20 vH, sondern von mindestens 30 vH voraussetzt.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juli 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Der Kläger ist selbstständiger landwirtschaftlicher Unternehmer. Er wendet sich dagegen, dass ihm wegen der Sonderregelung in § 80a Abs 1 S 1 SGB VII kein Anspruch auf eine Verletztenrente zusteht, obwohl die Beklagte wegen der gesundheitlichen Folgen einer anerkannten Berufskrankheit (BK) eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH anerkannt hat.

Der 1953 geborene Kläger war bis zum 31.12.2012 als selbstständiger landwirtschaftlicher Unternehmer tätig. Zum 1.1.2013 gab er seine Tätigkeit mit Heben und Tragen schwerer Lasten und in extremer Rumpfbeugehaltung endgültig auf. Die Beklagte erkannte das Bestehen einer BK nach Nr 2108/2110 der Anlage 1 zur BKV mit einem am 1.1.2013 eingetretenen Versicherungsfall an, lehnte jedoch die Gewährung einer Verletztenrente ab, weil die gesundheitlichen Folgen der BK lediglich eine MdE von 20 vH bedingten. Nach § 80a Abs 1 S 1 SGB VII dürfe eine Rente erst beim Vorliegen einer MdE von wenigstens 30 vH gewährt werden (Bescheid vom 16.6.2015 und Widerspruchsbescheid vom 29.7.2015). Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 30.11.2015), das LSG die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 25.7.2016). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, zwar sei der Versicherungsfall einer BK am 1.1.2013 eingetreten, die anerkannten Folgen der Wirbelsäulenerkrankung bedingten aber lediglich eine MdE von 20 vH, sodass gemäß § 80a Abs 1 S 1 SGB VII ein Anspruch des Klägers auf Verletztenrente ausscheide. Jedenfalls für landwirtschaftliche Unternehmer wie den Kläger sei die Erhöhung der Mindest-MdE von 20 vH auf 30 vH für einen Anspruch auf Verletztenrente durch § 80a Abs 1 S 1 SGB VII verfassungsgemäß und insbesondere mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG vereinbar. Die landwirtschaftliche Unfallversicherung habe genossenschaftlichen Charakter. Deshalb komme dem Umstand, dass der Berufsstand der Landwirte selbst die Leistungseinschränkung vorgeschlagen habe, um die Landwirte als Beitragszahler finanziell zu entlasten, besondere Bedeutung als Rechtfertigungsgrund zu. Auch ein Verstoß gegen das in Art 14 GG verankerte Eigentumsgrundrecht sei nicht ersichtlich.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Art 3 Abs 1 GG und der Art 14 iVm Art 20 GG. Landwirte würden durch § 80a Abs 1 S 1 SGB VII gegenüber allen anderen Unfallversicherten ungerechtfertigt benachteiligt. Ein Vorschlag des Berufsstandes der Landwirte könne die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen. Eine Entlastung der Beitragszahler sei nicht ersichtlich. Auch verstoße die Regelung des § 80a Abs 1 S 1 SGB VII gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil jegliche Vertrauensschutz- und Übergangsregelung fehle.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
1. das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25.7.2016, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 30.11.2015 sowie den Bescheid vom 16.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.7.2015 aufzuheben,
2. das Verfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art 100 GG vorzulegen.

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die Berufung gegen den die Klage abweisenden Gerichtsbescheid des SG zurückgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 16.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.7.2015 ist rechtmäßig, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Verletztenrente, weil bei ihm die von § 80a Abs 1 S 1 SGB VII geforderte MdE von 30 vH nicht vorliegt.

1. Zu entscheiden war im Revisionsverfahren über die Rechtmäßigkeit der Verfügung in dem Bescheid der Beklagten vom 16.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.7.2015, mit der die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente abgelehnt und die der Kläger mit einer zulässigen Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) angegriffen hat, sowie über den Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Verletztenrente. Sein im Revisionsverfahren verfolgtes Begehren war gemäß § 123 SGG dahin auszulegen, dass er neben der Anfechtungsklage auch seine in den Vorinstanzen ausdrücklich erhobene zulässige Leistungsklage gemäß § 54 Abs 4 SGG aufrechterhalten hat. Allein daraus, dass der Kläger in seinem schriftsätzlichen Antrag nicht ausdrücklich die Gewährung einer Verletztenrente benannt hat, kann nicht geschlossen werden, dass er sein Leistungsbegehren nicht mehr verfolgt, weil er nur mit einer Leistungsklage die Verurteilung der Beklagten zu der von ihm begehrten Verletztenrente erreichen konnte. Ein Klageantrag ist unabhängig von seinem Wortlaut unter Berücksichtigung des wirklichen Willens so auszulegen, dass das Begehren des Klägers weitgehend zum Tragen kommt (vgl zB BSG vom 6.4.2011 - B 4 AS 119/10 R - BSGE 108, 86 = SozR 4-1500 § 54 Nr 21 RdNr 29 mwN).

2. Der Kläger hat gemäß § 80a Abs 1 S 1 SGB VII keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente, weil seine Erwerbsfähigkeit infolge der durch die anerkannte BK Nr 2108/2110 verursachten Gesundheitsstörungen nicht um wenigstens 30 vH gemindert ist. Anspruch auf Verletztenrente haben gemäß § 56 Abs 1 S 1 SGB VII Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist. Abweichend von § 56 Abs 1 S 1 SGB VII haben gemäß der durch Art 1 Nr 7 des Gesetzes zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG - vom 18.12.2007, BGBl I 2984) mit Wirkung zum 1.1.2008 geschaffenen Regelung des § 80a Abs 1 S 1 SGB VII Versicherte nach § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst a und b SGB VII nur Anspruch auf eine Rente, wenn ihre Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 30 vH gemindert ist. Gemäß § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst a und b SGB VII versichert sind Unternehmer eines landwirtschaftlichen Unternehmens und ihre im Betrieb mitarbeitenden Ehegatten oder Lebenspartner (Buchst a) sowie die im landwirtschaftlichen Unternehmen nicht nur vorübergehend mitarbeitenden Familienangehörigen (Buchst b). § 80a SGB VII ist auf Versicherungsfälle anzuwenden, die nach dem 31.12.2007 eingetreten sind (§ 221 Abs 2 SGB VII). Die für einen Anspruch auf Verletztenrente erforderlichen Voraussetzungen dieser Vorschriften erfüllt der Kläger nicht.

Beim Kläger liegt zwar eine BK und damit ein Versicherungsfall vor. Die Folgen der als BK anerkannten Wirbelsäulenerkrankung bedingen auch eine MdE von 20 vH. § 80a Abs 1 S 1 SGB VII schließt jedoch einen Anspruch des Klägers auf Verletztenrente aus. Der Kläger gehörte als selbstständig tätiger Landwirt zum Kreis der Versicherten nach § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst a SGB VII, die nach § 80a Abs 1 S 1 SGB VII einen Anspruch auf Rente erst ab einer MdE in Höhe von mindestens 30 vH haben, sodass ein Anspruch auf eine Verletztenrente nicht besteht (dazu unter a). Die Regelung des § 80a Abs 1 S 1 SGB VII begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (dazu unter b).

a) Beim Kläger liegt als Versicherungsfall nach § 9 Abs 1 SGB VII eine BK nach Nr 2108/2110 der Anlage 1 zur BKV vor. Dieser Versicherungsfall ist am 1.1.2013 eingetreten, was die Beklagte bindend festgestellt hat (vgl § 77 SGG). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind (§ 163 SGG), bedingen die Folgen der als BK anerkannten Wirbelsäulenerkrankung eine MdE des Klägers von 20 vH. (vgl dazu BSG vom 20.12.2016 - B 2 U 11/15 R - BSGE 122, 232 = SozR 4-2700 § 56 Nr 4, RdNr 15 f mwN). § 80a Abs 1 S 1 SGB VII ist im vorliegenden Fall gemäß § 221 Abs 2 SGB VII anwendbar, weil der Versicherungsfall am 1.1.2013 eingetreten ist.

Der Kläger hat die BK als nach § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst a SGB VII Versicherter erlitten. Er war als Unternehmer eines landwirtschaftlichen Betriebes Versicherter iS des § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst a SGB VII, weil er nach den bindenden Feststellungen des LSG bis zum 31.12.2012 als Landwirt selbstständig tätig war. Dementsprechend hat die Beklagte das Vorliegen einer BK nach Nr 2108/2110 der Anlage 1 zur BKV aufgrund dieser Tätigkeit und der Versicherteneigenschaft als landwirtschaftlicher Unternehmer anerkannt. Unerheblich ist, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls am 1.1.2013 seine Tätigkeit als selbstständiger Landwirt bereits aufgegeben hatte. Gemäß § 80a Abs 1 S 1 SGB VII setzt der Verletztenrentenanspruch für als selbstständige Landwirte nach § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst a SGB VII Versicherte eine MdE von mindestens 30 vH voraus, unabhängig davon, ob der Versicherte während des Rentenbezugs noch als Landwirt selbstständig tätig ist. Weder dem Wortlaut noch der Entstehungsgeschichte des § 80a Abs 1 S 1 SGB VII (vgl hierzu Gesetzentwurf der Bundesregierung zum LSVMG BT-Drucks 16/6520 S 1 ff, Beschlussempfehlung des Ausschusses für...

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