Urteil Nr. B 3 KR 14/21 R des Bundessozialgericht, 2023-02-22

Judgment Date22 Febrero 2023
ECLIDE:BSG:2022:220223UB3KR1421R0
Judgement NumberB 3 KR 14/21 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 24. September 2021 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass die mit Beschluss des Beigeladenen zu 2 vom 15. August 2019 vorgenommene Änderung der Anlage XII der Arzneimittel-Richtlinie zur Nutzenbewertung des Wirkstoffes Regadenoson (neues Anwendungsgebiet: Messung der fraktionellen Flussreserve) unwirksam ist.

Der Schiedsspruch der Beklagten vom 1. Juli 2020 (schriftliche Fassung vom 6. Juli 2020) wird aufgehoben.

Der Beigeladene zu 2 trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu 1.

Tatbestand

Im Streit steht ein Schiedsspruch über die Festsetzung eines Erstattungsbetrags für ein Arzneimittel sowie der ihm zugrunde liegende Nutzenbewertungsbeschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA).

Die Klägerin ist ein pharmazeutischer Unternehmer und vertreibt das seit 2010 zugelassene Fertigarzneimittel Rapiscan® mit dem Wirkstoff Regadenoson in Deutschland. Dieses ist seit 2011 in Deutschland im Verkehr und wird als Diagnostikum zur kurzzeitigen Gefäßerweiterung eingesetzt. 2019 erhielt das Arzneimittel eine Zulassung im neuen Anwendungsgebiet als pharmakologischer Stressauslöser für die Messung der fraktionellen Flussreserve (FFR-Messung), die 2017 im Verfahren nach § 135 SGB V als neue Methode anerkannt worden war und 2018 Aufnahme im Einheitlichen Bewertungsmaßstab fand. Der zu 2 beigeladene GBA bewertete im Verfahren nach § 35a SGB V den Nutzen des Wirkstoffs im neuen Anwendungsgebiet und ergänzte die Anlage XII der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) um die Feststellung, dass ein Zusatznutzen von Regadenoson (Rapiscan®) gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie "Pharmakologische Stressauslösung nach Maßgabe des Arztes" als nicht belegt gelte (Beschluss vom 15.8.2019, BAnz AT 9.9.2019 B3). In den Tragenden Gründen zum Nutzenbewertungsbeschluss führte der GBA ua aus, dass im neuen Anwendungsgebiet keine weiteren Arzneimittel zugelassen seien und die im Off-Label-Use eingesetzten Wirkstoffe Adenosin und Nitroprussid als geeignete Komparatoren angesehen werden könnten (Tragende Gründe vom 15.8.2019). Einer Festbetragsgruppe ordnete der Beigeladene zu 2 das Arzneimittel nicht zu.

Nach gescheiterten Verhandlungen zwischen der Klägerin und dem zu 1 beigeladenen GKV-Spitzenverband über eine Erstattungsbetragsvereinbarung rief dieser die beklagte Schiedsstelle an und beantragte die Festsetzung des Vertragsinhalts nach § 130b SGB V zu Regadenoson (Rapiscan®). Die Beklagte setzte auf der Grundlage des Nutzenbewertungsbeschlusses des GBA den Erstattungsbetrag und weitere Vereinbarungsinhalte fest (Schiedsspruch vom 1.7.2020, schriftliche Fassung vom 6.7.2020).

Das LSG hat die Klage, gerichtet auf Aufhebung des Schiedsspruchs und Verpflichtung der Beklagten zur erneuten Entscheidung über den Schiedsantrag der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts sowie auf Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtigkeit des Nutzenbewertungsbeschlusses des Beigeladenen zu 2, abgewiesen: Die Voraussetzungen für die Durchführung eines Nutzenbewertungsverfahrens hätten vorgelegen; es handele sich um ein erstattungsfähiges Arzneimittel mit neuem Wirkstoff, das zuvor in das Methodenbewertungsverfahren nicht einbezogen gewesen sei. Der Nutzenbewertungsbeschluss sei weder in formeller noch materiell-rechtlicher Hinsicht zu beanstanden, insbesondere habe der zulassungsrechtliche Solistenstatus von Regadenoson im neuen Anwendungsgebiet hinreichende Beachtung gefunden. Der auf der Grundlage dieses Beschlusses ergangene Schiedsspruch sei ebenfalls rechtmäßig sowohl hinsichtlich des festgesetzten Erstattungsbetrags als auch der festgesetzten weiteren Vertragsinhalte (Urteil vom 24.9.2021).

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§§ 35a, 130b SGB V). Die Durchführung des Nutzenbewertungsverfahrens sei bereits unstatthaft gewesen, weil das Arzneimittel nur im Direktvertrieb abgegeben werde und der Wirkstoff wegen Ablaufs des Unterlagenschutzes nicht mehr neu sei, auch stehe der Nutzenbewertung das vorangegangene Methodenbewertungsverfahren entgegen. Der Beschluss des GBA sei wegen Verletzung des Gebots des fairen Verfahrens formell rechtswidrig und materiell rechtswidrig wegen unzureichender Berücksichtigung des Solistenstatus von Regadenoson. Der Schiedsspruch sei rechtswidrig, insbesondere wegen der Berücksichtigung von Arzneimitteln im Off-Label-Use als zweckmäßige Vergleichstherapie bei der Festsetzung des Erstattungsbetrags und der Nichtbeachtung der Besonderheiten des Direktvertriebs.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 24. September 2021 aufzuheben und
1. festzustellen, dass die mit Beschluss des Beigeladenen zu 2 vom 15. August 2019 vorgenommene Änderung der Anlage XII der Arzneimittel-Richtlinie zur Nutzenbewertung des Wirkstoffes Regadenoson (neues Anwendungsgebiet: Messung der fraktionellen Flussreserve) unwirksam ist,
sowie
2.den Schiedsspruch der Beklagten vom 1. Juli 2020 (schriftliche Fassung vom 6. Juli 2020) aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Schiedsantrag der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen, soweit sie sich gegen ihren Schiedsspruch und das ihn bestätigende Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 24. September 2021 richtet.

Der Beigeladene zu 1 verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Der Beigeladene zu 2 verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Entgegen der Auffassung des erstinstanzlich zuständigen LSG Berlin-Brandenburg (§ 29 Abs 4 Nr 3 SGG) ist der Nutzenbewertungsbeschluss des zu 2 beigeladenen GBA jedenfalls deshalb rechtswidrig und unwirksam, weil über eine Nutzenbewertung des Arzneimittels wegen dessen zulassungsrechtlicher Solistenstellung im neuen Anwendungsgebiet nicht zu beschließen war. Mangels Grundlage für eine Erstattungsbetragsfestsetzung ist danach auch der Schiedsspruch der beklagten Schiedsstelle rechtswidrig und aufzuheben.

A. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind der Nutzenbewertungsbeschluss des Beigeladenen zu 2 und der auf dessen Grundlage ergangene Schiedsspruch der Beklagten. Gegen den Nutzenbewertungsbeschluss des zum Rechtsstreit notwendig beigeladenen GBA wendet sich die Klägerin im Rahmen des Rechtsschutzes gegen den Schiedsspruch der Beklagten zulässig mit einem Feststellungsantrag, gerichtet auf die Feststellung der Unwirksamkeit des Nutzenbewertungsbeschlusses (vgl zuletzt BSG vom 12.8.2021 - B 3 KR 3/20 R - BSGE 133, 1 = SozR 4-2500 § 130b Nr 5, RdNr 15 ff). Gegen den Schiedsspruch der Beklagten wendet sich die Klägerin zulässig mit der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, gerichtet auf die Aufhebung des Schiedsspruchs und Verpflichtung der Schiedsstelle zur neuen Entscheidung über den Schiedsantrag der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats (vgl zuletzt BSG vom 12.8.2021 - B 3 KR 3/20 R - aaO, RdNr 21 ff).

B. Der Nutzenbewertungsbeschluss des Beigeladenen zu 2 ist rechtswidrig und von Anfang an unwirksam.

1. Der Nutzenbewertungsbeschluss ist gestützt auf § 35a SGB V (in der Normfassung am Tag des Nutzenbewertungsbeschlusses des Terminservice- und Versorgungsgesetzes vom 6.5.2019, BGBl I 646).

a) Danach bewertet der GBA den Nutzen von erstattungsfähigen Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen (§ 35a Abs 1 Satz 1 SGB V). Hierzu gehört insbesondere die Bewertung des Zusatznutzens gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie, des Ausmaßes des Zusatznutzens und seiner therapeutischen Bedeutung (§ 35a Abs 1 Satz 2 SGB V). Der Nutzen eines Arzneimittels ist nach der untergesetzlichen Ausgestaltung der patientenrelevante therapeutische Effekt insbesondere hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustands, der Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überlebens, der Verringerung von Nebenwirkungen oder einer Verbesserung der Lebensqualität (§ 2 Abs 3 Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung AM-NutzenV> in der Verordnungsfassung am Tag des Nutzenbewertungsbeschlusses des GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetzes vom 4.5.2017, BGBl I 1050; 5. Kapitel § 3 Abs 1 VerfOGBA idF der Verfahrensordnung VerfO> am Tag des Nutzenbewertungsbeschlusses der letzten Änderung vom 16.8.2018, BAnz AT 5.3.2019 B2). Der Zusatznutzen eines Arzneimittels ist ein Nutzen in diesem Sinne, der quantitativ oder qualitativ höher ist als der Nutzen, den die zweckmäßige Vergleichstherapie aufweist (§ 2 Abs 4 AM-NutzenV; 5. Kapitel § 3 Abs 2 VerfOGBA).

b) Als erste Stufe des durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz - AMNOG vom 22.12.2010 (BGBl I 2262) eingeführten zweistufigen Systems der Preisregulierung für erstattungsfähige Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen führt der GBA danach eine zulassungsnahe ("frühe") Nutzenbewertung durch (vgl § 35a Abs 1 Satz 3 SGB V) und veröffentlicht diese (§ 35a Abs 2 Satz 3 SGB V). Nach einem Stellungnahmeverfahren (§ 35a Abs 3 Satz 2 SGB V) beschließt der GBA über die Nutzenbewertung und stellt mit dem Beschluss insbesondere den Zusatznutzen des Arzneimittels fest (§ 35a Abs 3 Satz 1 und 3 SGB V); der Beschluss ist Teil der AM-RL (§ 35a Abs 3 Satz 6 SGB V). Auf der Grundlage dieses Beschlusses erfolgt, wenn das Arzneimittel keiner Festbetragsgruppe zugeordnet wurde, auf der zweiten Stufe die wirtschaftliche Preisregulierung des Arzneimittels nach Maßgabe des § 130b SGB V (hier in der Normfassung am Tag des Schiedsspruchs des Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 19.5.2020, BGBl I 1018), die sich für die Vereinbarung oder Festsetzung des Erstattungsbetrags am vom pharmazeutischen Unternehmer nachzuweisenden medizinischen...

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