Urteil Nr. B 4 AS 22/20 R des Bundessozialgericht, 2020-09-17

Judgment Date17 Septiembre 2020
ECLIDE:BSG:2020:170920UB4AS2220R0
Judgement NumberB 4 AS 22/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Angemessenheitsprüfung - Einpersonenhaushalt in Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen - schlüssiges Konzept - Datenerhebung ohne Berücksichtigung von Bestandsmieten - kalte Betriebskosten
Leitsätze

Der Schlüssigkeit eines Konzepts für die Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft steht nicht grundsätzlich entgegen, dass die Ermittlung der angemessenen Nettokaltmiete allein auf der Erhebung von Angebotsmieten beruht.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Dezember 2019 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Das Revisionsverfahren betrifft die Gewährung von Leistungen für Unterkunft und Heizung in der Stadt Gelsenkirchen für Juli 2017 bis März 2018.

Der Kläger beantragte am 16.9.2013 beim Beklagten während des laufenden SGB II-Leistungsbezugs eine Zusicherung zum Umzug in eine Mietwohnung unter der Adresse "A 8" in Gelsenkirchen. Dem Antrag war ein Angebot über eine Wohnung zu einer monatlichen Miete in Höhe von 362,61 Euro beigefügt. Der Beklagte erteilte eine "Zusicherung zu den Aufwendungen für die neue Unterkunft" (Bescheid vom 25.9.2013). Der Kläger schloss danach einen Mietvertrag mit derselben Vermieterin über eine Wohnung unter der Adresse "A 4" in Gelsenkirchen mit einer Miete in Höhe von monatlich 363,50 Euro. Der Beklagte berücksichtigte bei seiner Leistungsbewilligung rückwirkend zum 1.11.2013 Unterkunfts- und Heizbedarfe in Höhe von monatlich 363,50 Euro.

Im Oktober 2014 erstellte ein Forschungs- und Beratungsinstitut für den Beklagten ein Gutachten zu den Angemessenheitskriterien für die Kosten der Unterkunft. Nach dieser Untersuchung wurde der Angemessenheitswert für einen Alleinstehenden mit einer Bruttokaltmiete von 290 Euro angegeben.

Ab dem 1.11.2016 erhöhte sich die Gesamtmiete des Klägers auf 445,99 Euro (284,99 Euro Grundmiete, 88 Euro Betriebskosten, 73 Euro Heizkosten). Mit Schreiben vom 1.12.2016 und 9.2.2017 forderte der Beklagte den Kläger auf, seine Bruttokaltmiete bis spätestens zum 1.5.2017 auf 290 Euro abzusenken, anderenfalls würden ab dem 1.5.2017 nur noch die angemessenen Unterkunftskosten in Höhe einer Bruttokaltmiete von 290 Euro zuzüglich angemessener Heizkosten berücksichtigt.

Für Mai 2017 bis März 2018 bewilligte der Beklagte dem Kläger monatlich Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 363 Euro, bestehend aus 290 Euro Bruttokaltmiete nebst tatsächlichen Heizkosten in Höhe von 73 Euro (Bescheid vom 24.2.2017). Den gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 9.5.2017).

Unter dem 8.6.2017 aktualisierte das Forschungs- und Beratungsinstitut sein Gutachten zu den angemessenen Unterkunftskosten. Danach sei nach Auswertung von Angebotsmieten in der Zeit vom 1.7.2015 bis 30.6.2016 für einen Alleinstehenden von einer Bruttokaltmiete in Höhe von 310 Euro (240 Euro Grundmiete, 70 Euro Betriebskosten) auszugehen.

Ab September 2017 erhöhte sich die Gesamtmiete des Klägers auf 456,45 Euro. Der Beklagte änderte daraufhin seine Bewilligung und gewährte nun mit Bescheid vom 17.8.2017 Leistungen für Unterkunft und Heizung für September 2017 bis März 2018 in Höhe von monatlich 383 Euro (310 Euro Bruttokaltmiete, 73 Euro Heizkosten).

Das SG hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger "Leistungen für die Grundmiete" für die Zeit vom 1.5.2017 bis zum 31.8.2017 in Höhe von 284,99 Euro monatlich sowie für die Zeit vom 1.9.2017 bis zum 31.3.2018 in Höhe von 288,10 Euro monatlich zu gewähren (Urteil vom 19.9.2018). Die festgesetzten Mietobergrenzen beruhten nicht auf einem schlüssigen Konzept. Es seien auch Substandardwohnungen einbezogen worden. Daher sei auf die um einen Zuschlag von zehn Prozent erhöhten Tabellenwerte des WoGG zurückzugreifen.

Mit seiner Berufung hat sich der Beklagte zuletzt noch gegen die Verurteilung zur höheren Leistungsgewährung für Juli 2017 bis März 2018 gewandt. Im Laufe des Berufungsverfahrens hat der Beklagte die Anpassung der Mietobergrenzen ab Juli 2017 nachvollzogen und (auch) für Juli und August 2017 Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 383 Euro gewährt, für August 2017 zuzüglich 100,25 Euro aufgrund einer Betriebskostennachforderung (Änderungsbescheid vom 8.2.2019). Außerdem hat er dem Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 5.12.2019 unter Änderung der angefochtenen Bescheide von Juli 2017 bis März 2018 weitere monatliche Unterkunftskosten in Höhe von 11,50 Euro zugesprochen (umgesetzt durch Änderungsbescheid vom 26.2.2020).

Das LSG hat das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 5.12.2019). Die Ermittlung der angemessenen Bruttokaltmiete nur anhand von Wohnungsangeboten sei von der jüngsten Rechtsprechung des BSG gedeckt. Diese betone ausdrücklich die Eigenverantwortung der Exekutive und beschränke die gerichtliche Kontrolle auf eine nachvollziehende Kontrolle.

Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger, dass Substandardwohnungen nicht aus den im schlüssigen Konzept berücksichtigten Angebotsmieten ausgesondert worden seien. Außerdem seien Bestandsmieten zu Unrecht nicht berücksichtigt worden. Die Datenerhebung sei zudem nicht auf einen Zeitraum von sechs Monaten, sondern auf ein Jahr bezogen gewesen. Es sei auch ungeklärt, ob Vermieter bereit gewesen wären, eine Wohnung an ihn zu vermieten.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Dezember 2019 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19. September 2018 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Der Beklagte ist der Auffassung, dass nachvollziehbar belegt sei, dass Wohnungen mit einem Substandard bei Neuvermietungen nicht angeboten würden. Ein auf Angebotsmieten abstellender Ansatz entspreche den Anforderungen der Rechtsprechung an ein schlüssiges Konzept. Die Verpflichtung aus § 22c SGB II, bei der Erstellung einer Satzung auch Bestandsmieten einzubeziehen, habe lediglich begrenzende Wirkung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht darüber entscheiden, ob der Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum einen höheren Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung hat.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten vom 24.2.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.5.2017 sowie in der Fassung des gemäß § 96 Abs 1 SGG zum Gegenstand des Klageverfahrens gewordenen Änderungsbescheides vom 17.8.2017 und des gemäß § 153 Abs 1 iVm § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens gewordenen Bescheides vom 8.2.2019 und des mündlichen Verwaltungsaktes vom 5.12.2019 (umgesetzt durch Änderungsbescheid vom 26.2.2020), soweit diese für den Zeitraum vom 1.7.2017 bis 31.3.2018 die Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II betreffen (zur Zulässigkeit dieser Beschränkung zuletzt BSG vom 29.8.2019 - B 14 AS 43/18 R - BSGE 129, 72 = SozR 4-4200 § 22 Nr 103, RdNr 10 mwN). Soweit das SG dem Kläger isoliert eine höhere Nettokaltmiete zugesprochen hat, ist dem das LSG zu Recht nicht gefolgt. Es handelt sich bei einzelnen Berechnungselementen der Kosten der Unterkunft nicht um einen eigenständigen Streitgegenstand (vgl zuletzt BSG vom 29.8.2019 - B 14 AS 43/18 R - BSGE 129, 72 = SozR 4-4200 § 22 Nr 103, RdNr 11 mwN). Im Revisionsverfahren ist die Prüfung daher zwar der Höhe nach auf die vom SG zugesprochenen Beträge begrenzt, ohne aber auf die Prüfung nur der Nettokaltmiete beschränkt zu sein.

2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Die Berufung des Beklagten ist zulässig, insbesondere gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG nicht zulassungsbedürftig, weil die Beschwer des Beklagten durch das Urteil des SG einen Betrag von 750 Euro überstieg. Das SG hat den Beklagten verurteilt, für Mai bis August 2017 monatlich "Leistungen für die Grundmiete" in Höhe von 284,99 Euro und für September 2017 bis März 2018 monatliche "Leistungen für die Grundmiete" in Höhe von 288,10 Euro zu gewähren. Das SG wollte damit dem Kläger die Differenz zu den vom Beklagten in seinen Bescheiden vom 24.2.2017 und 17.8.2017 rechnerisch als "Grundmietenbetrag" zugrunde gelegten Beträgen von 206 Euro monatlich (Mai 2017 bis August 2017) bzw 212 Euro monatlich (September 2017 bis März 2018) zusprechen. Die Beschwer des Beklagten durch das Urteil des SG liegt damit bei 848,66 Euro. Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Berufungseinlegung (zuletzt Urteil des Senats vom 19.3.2020 - B 4 AS 4/20 R - juris RdNr 14 mwN - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen), so dass die spätere teilweise Berufungsrücknahme unbeachtlich ist.

Ob die Berufung des Beklagten begründet war, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Unter Berücksichtigung der nachfolgenden Darlegungen zur Ermittlung der Höhe des Anspruchs auf Leistungen für Unterkunft und Heizung sind weitere Feststellungen des LSG erforderlich.

Der Kläger war nach den Feststellungen des LSG ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter iS des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II; ein Leistungsausschlusstatbestand lag nicht vor. Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden im Rahmen der Bewilligung von Alg II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II). Zur Bestimmung des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft ist von den tatsächlichen Aufwendungen auszugehen. Will das Jobcenter nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkennen, weil es sie für unangemessen hoch hält...

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