Urteil Nr. B 5 R 5/22 R des Bundessozialgericht, 2023-12-21

Judgment Date21 Diciembre 2023
ECLIDE:BSG:2023:211223UB5R522R0
Judgement NumberB 5 R 5/22 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine höhere große Witwenrente.

Die 1944 geborene Klägerin siedelte im Jahr 1992 aus der Republik Polen in die Bundesrepublik Deutschland über. Ihr Ehemann, der 1943 geborene O (im Folgenden: Versicherter), war bereits im Juni 1990 umgesiedelt. Der Versicherte, der als Spätaussiedler iS des § 4 des Bundesvertriebenengesetzes anerkannt war, bezog ab August 2008 Regelaltersrente von der Beklagten. Seine Rente wurde in Anwendung des deutsch-polnischen Abkommens über Renten- und Unfallversicherung vom 9.10.1975 (im Folgenden: DPSVA 1975) berechnet. Ihr lagen 9,8869 Entgeltpunkte (EP) aus der allgemeinen Versicherung und 28,8858 EP aus der knappschaftlichen Versicherung zugrunde. Die persönlichen EP des Versicherten beliefen sich auf dieselben Werte.

Der Versicherte verstarb am 12.12.2013. Die Beklagte bewilligte der Klägerin auf ihren Antrag vom 28.1.2014 große Witwenrente ab dem 1.1.2014 mit einem Monatsbetrag iHv 510,93 Euro und einem monatlichen Zahlbetrag nach Abzug der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung iHv 458,57 Euro (Bescheid vom 7.2.2014; Widerspruchsbescheid vom 29.1.2016). Dem lagen lediglich 7,0965 persönliche EP aus der allgemeinen Versicherung und 17,3734 persönliche EP aus der knappschaftlichen Rentenversicherung zugrunde. Der Klägerin stehe bloß ein "modifizierter" Besitzschutz zu. Das DPSVA 1975 komme bei Berechnung ihrer Hinterbliebenenrente nicht zur Anwendung. Geschützt seien lediglich die (fiktiven) persönlichen EP des Versicherten, die sich ergeben hätten, wenn seine Rente in Anwendung des europäischen Koordinierungsrechts berechnet worden wäre. Die in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten wären dann nur nach Maßgabe des Fremdrentengesetzes (FRG) berücksichtigt worden.

Der polnische Rentenversicherungsträger gewährte der Klägerin rückwirkend ab dem 12.12.2013 eine Rente. Gestützt auf § 31 FRG, ordnete die Beklagte ein teilweises Ruhen der streitbefangenen Rente ab dem 1.1.2014 an (Bescheid vom 24.4.2015). Die Widersprüche der Klägerin gegen sämtliche Bescheide wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 29.1.2016). Das SG hat das Verfahren, soweit es sich gegen diesen Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.1.2016 gerichtet hat, abgetrennt und ruhend gestellt.

Im verbliebenen Klageverfahren hat es die Beklagte verurteilt, die große Witwenrente der Klägerin unter Zugrundelegung von 9,8869 EP aus der allgemeinen Versicherung und 28,8858 EP aus der knappschaftlichen Versicherung zu berechnen (Urteil vom 21.2.2020). Die dagegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das LSG mit Urteil vom 14.12.2021 zurückgewiesen. Die Klägerin könne eine große Witwenrente unter Zugrundelegung weiterer persönlicher EP beanspruchen. Zwar komme das DPSVA 1975 bei Berechnung ihrer Hinterbliebenenrente nicht zur Anwendung, weil sie erst nach dem Stichtag 31.12.1990 ihren Wohnsitz im Bundesgebiet genommen habe. Anwendbar sei vielmehr das deutsch-polnische Sozialversicherungsabkommen vom 8.12.1990 (im Folgenden: Abk Polen SozSich). Da die danach ermittelten persönlichen EP der Klägerin unterhalb denjenigen des verstorbenen Versicherten blieben, seien jedoch Letztere zugrunde zu legen. Die Besitzschutzregelung für Folgerenten werde durch die zwischenstaatlichen Regelungen nicht verdrängt. Weder aus einzelnen Bestimmungen noch aus dem Gesamtgefüge des Abk Polen SozSich ergebe sich eine Regelung, die mit derjenigen in § 88 Abs 2 Satz 1 SGB VI kollidiere. Den Abkommenspartnern werde nicht verboten, dafür zu sorgen, dass nach dem Versterben eines Versicherten dessen Lebensstandard den Hinterbliebenen erhalten bleibe, solange diese im Inland wohnen. Die inländische Besitzschutzregelung belaste auch nicht den polnischen Sozialversicherungsträger. Dem von der Beklagten angewandten "modifizierten" Besitzschutz stehe schließlich entgegen, dass sich die Regelung in § 88 Abs 2 Satz 1 SGB VI auf die Gesamtheit der persönlichen EP eines Versicherten beziehe, die nicht weiter aufzuspalten sei.

Die Beklagte rügt mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision sinngemäß eine Verletzung des Art 4 Abs 1 DPSVA 1975 und des Art 27 Abs 2 Satz 1 Abk Polen SozSich. Danach seien bei Personen, die wie die Klägerin nach dem Stichtag 31.12.1990 in die Bundesrepublik umgesiedelt seien, polnische Versicherungszeiten nur vom polnischen Versicherungsträger zu berücksichtigen. Diese Leitidee des deutsch-polnischen Abkommensrechts werde unterlaufen, wenn die streitbefangene Hinterbliebenenrente in wortgetreuer Anwendung der Besitzschutzregelung in § 88 Abs 2 Satz 1 SGB VI berechnet werde, denn dann würde die Klägerin Leistungen der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung aus polnischen Versicherungszeiten erhalten. Obgleich die streitbefangene Rente nicht nach Abkommensrecht berechnet werde, müsse dem erkennbaren Willen der Abkommensparteien Geltung verschafft werden. Es sei von einer Verdrängung der nationalen Besitzschutzregelung auszugehen.

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 2021 und des Sozialgerichts Duisburg vom 21. Februar 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

A. Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

I. Gegenstand der revisionsrechtlichen Überprüfung ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid der Beklagten vom 7.2.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.1.2016, soweit die Beklagte darin die Rentenhöhe festsetzte. Die mit Bescheid vom 24.4.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.1.2016 verfügte Ruhensanordnung betrifft einen abtrennbaren und hier auch abgetrennten Streitgegenstand. Eine Ruhensanordnung bildet dann einen eigenständigen Streitgegenstand, wenn der Monatsbetrag der Rente unabhängig vom Ruhensbetrag festgesetzt wird (vgl BSG Urteil vom 11.5.2011 - B 5 R 8/10 R - BSGE 108, 152 = SozR 4-5050 § 31 Nr 1, RdNr 13; BSG Urteil vom 21.3.2018 - B 13 R 15/16 R - SozR 4-5050 § 31 Nr 2 RdNr 15). Das war hier der Fall. Das LSG hat den Bescheid vom 24.4.2015 zutreffend dahin ausgelegt, dass er eine von der Bestimmung der Rentenhöhe unterscheidbare Ruhensanordnung nach § 31 FRG enthielt.

Obgleich die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren wörtlich beantragt hat, die Beklagte zur Gewährung einer großen Witwenrente "unter Anwendung des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens von 1975" zu verurteilen, hat sie bei verständiger Würdigung ihres Vorbringens (§ 123 SGG) durchgehend einen Anspruch auf Festsetzung eines höheren Monatsbetrags ihrer großen Witwenrente unter Zugrundelegung von 9,8869 persönlichen EP aus der allgemeinen Rentenversicherung und 28,8858 persönlichen EP aus knappschaftlichen Versicherungszeiten geltend gemacht. Davon ist auch das LSG ausgegangen. Die Klägerin verfolgt ihr so verstandenes Begehren zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 56 SGG), gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG).

II. Zu Recht hat das LSG die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Vorinstanzen haben die Beklagte zutreffend unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 7.2.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.1.2016 verurteilt, der Klägerin ab Rentenbeginn am 1.1.2014 eine höhere große Witwenrente unter Zugrundelegung der persönlichen EP zu gewähren, die Grundlage der Regelaltersrente des Versicherten waren. Der Monatsbetrag einer Rente ergibt sich, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen EP, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert miteinander vervielfältigt werden (§ 64 SGB VI). Dass der streitbefangenen Rente 9,8869 persönliche EP aus der allgemeinen Versicherung und 28,8858 persönliche EP aus der knappschaftlichen Versicherung zugrunde zu legen waren (vgl zur getrennten Ermittlung der persönlichen EP bei Renten, die auch Zeiten in der knappschaftlichen Versicherung aufweisen, Stahl in Hauck/Noftz, SGB VI, Stand 4. EL 2023, § 88 RdNr 21), folgt aus § 88 Abs 2 Satz 1 SGB VI.

1. Nach dieser Vorschrift werden einer Hinterbliebenenrente, die sich an eine andere Rente anschließt (sog Folgerente), mindestens die bisherigen persönlichen EP des verstorbenen Versicherten zugrunde gelegt, wenn der verstorbene Versicherte eine Rente aus eigener Versicherung bezogen hat (sog Vorrente) und die Hinterbliebenenrente spätestens innerhalb von 24 Kalendermonaten nach Ende des Bezugs dieser Rente beginnt.

2. § 88 Abs 2 Satz 1 SGB VI ist im Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten grundsätzlich anwendbar und wird insbesondere nicht durch Regelungen des deutsch-polnischen Abkommensrechts verdrängt. Das gilt schon deswegen, weil der streitbefangene Rentenanspruch weder dem deutsch-polnischen Abkommen über Renten- und Unfallversicherung vom 9.10.1975 (BGBl II 1976, 396 - im Folgenden: DPSVA 1975) unterfällt, das durch Art 1 Satz 1 des Gesetzes zu dem Abkommen vom 9.10.1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung nebst der Vereinbarung hierzu vom 9.10.1975 vom 12.3.1976 (BGBl II 393) in innerstaatliches Recht transformiert worden und am 1.5.1976 in Kraft getreten ist, noch dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 8.12.1990 (BGBl II 1991, 743 - im Folgenden: Abk Polen SozSich), das durch Art 1 Satz...

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