Urteil Nr. B 5 R 27/21 R des Bundessozialgericht, 2022-11-10

Judgment Date10 Noviembre 2022
ECLIDE:BSG:2022:101122UB5R2721R0
Judgement NumberB 5 R 27/21 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Januar 2020 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 20. Juli 2020 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Der Kläger begehrt in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter über das Vermögen des beigeladenen Versicherten (Beigeladener zu 1) die Zahlung von 4800 Euro.

Der Beigeladene zu 1 bezieht seit Mai 2006 eine Altersrente für langjährig Versicherte mit einem monatlichen Zahlbetrag von anfangs 764,50 Euro von der Beklagten (Bescheid vom 4.4.2006). Die beigeladene BG Bau (Beigeladene zu 2) ist Inhaberin einer bestandskräftig gegen ihn festgesetzten Beitragsforderung über 9271,90 Euro. Mit Schreiben vom 13.4.2006 und 30.10.2006 erneuerte sie ein bereits zuvor gestelltes Verrechnungsersuchen bei der Beklagten. Diese verfügte nach Anhörung des Beigeladenen zu 1, dass die Beitragsforderung der Beigeladenen zu 2 ab dem nächstmöglichen Zeitpunkt im Umfang von 100 Euro monatlich mit dem Rentenanspruch verrechnet werde, bis die Forderung getilgt sei (Bescheid vom 7.11.2007). Die Verrechnung setzte mit dem Dezember 2007 ein.

Am 28.5.2008 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Beigeladenen zu 1 eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt (Beschluss des AG Neubrandenburg vom 28.5.2008). Er vertrat die Ansicht, die Verrechnung sei nur innerhalb der Zweijahresfrist des § 114 InsO aF zulässig, mithin letztmals im Mai 2010. Die Beklagte war anderer Auffassung und setzte die Verrechnung über Mai 2010 hinaus fort. Mit einem nicht genauer datierten Schreiben aus Oktober 2011 erklärte der Beigeladene zu 1 sein Einverständnis damit, dass der Kläger in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter bestehende Nachzahlungsansprüche gegen die Beklagte im Namen der Insolvenzmasse geltend mache. Der Beigeladene zu 1 erklärte zudem höchst vorsorglich die Abtretung der Ansprüche auf Nachzahlung der zu Unrecht verrechneten Beträge an die Insolvenzmasse, soweit sie nicht bereits nach §§ 35, 36 InsO in die Masse fielen.

Der Kläger hat am 11.4.2013 eine kombinierte Feststellungs- und Leistungsklage vor dem SG Neubrandenburg erhoben, die an das SG Lübeck verwiesen worden ist. Dem Beigeladenen zu 1 ist ab dem 28.5.2014 Restschuldbefreiung erteilt worden (Beschluss des AG Neubrandenburg vom 1.9.2014). Die Beklagte hat die Verrechnung ab Oktober 2014 eingestellt und das vom Kläger angenommene Teilanerkenntnis abgegeben, die für Juni 2014 bis September 2014 von seiner Rente einbehaltenen Beträge an den Beigeladenen zu 1 zu zahlen. Die verbliebene Klage hat das SG Lübeck abgewiesen (Urteil vom 29.6.2017). Der Kläger hat mit seiner dagegen eingelegten Berufung nur noch die Zahlung von 4800 Euro an den Beigeladenen zu 1, hilfsweise an sich selbst in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter begehrt. Das LSG hat die Berufung mit Urteil vom 20.1.2020 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 20.7.2020 zurückgewiesen. Der Kläger sei prozessführungsbefugt. Jedoch stehe weder ihm noch dem Beigeladenen zu 1 der geltend gemachte Anspruch zu. Die Verrechnung mit den Rentenzahlungen für Juni 2010 bis Mai 2014 sei rechtmäßig erfolgt. Das Insolvenzverfahren habe der Verrechnung nicht entgegengestanden. Die Rente habe im streitbefangenen Zeitraum durchgehend unterhalb der Pfändungsfreigrenze für Arbeitseinkommen gelegen. Da die Zahlungsansprüche des Beigeladenen zu 1 nicht in die Insolvenzmasse gefallen seien, bestünden weder die Verrechnungshindernisse nach den §§ 95, 96 InsO noch gelte die Zweijahresfrist des § 114 InsO aF. Die Beklagte habe auf den Teil der Rente zugegriffen, der nicht zur Befriedigung anderer Gläubiger zur Verfügung gestanden habe.

Der Kläger rügt mit seiner vom BSG zugelassenen Revision (Beschluss vom 21.10.2020) ua eine Verletzung des § 114 InsO aF und des § 87 InsO. Eine Verrechnung mit Altersrentenbezügen nach Ablauf der Zweijahresfrist fortzusetzen widerspreche dem Sinn und Zweck des Insolvenzverfahrens, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Insolvenzschuldners wiederherzustellen. Die insolvenzrechtliche Vorgabe, dass Insolvenzgläubiger ihre Forderungen nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen können, werde durch die sozialrechtlichen Regelungen nicht verdrängt.

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Januar 2020 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 20. Juli 2020 und des Sozialgerichts Lübeck vom 29. Juni 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Beigeladenen zu 1, hilfsweise an ihn in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter über das Vermögen des Beigeladenen zu 1, 4800 Euro zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Der Beigeladene zu 1 hat sich nicht geäußert. Der Beigeladene zu 2 hält die Berufungsentscheidung für zutreffend. Anträge haben die Beigeladenen nicht gestellt.

Entscheidungsgründe

A. Nach Schließung des 13. Senats zum 1.7.2021 durch Erlass des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 24.6.2021 (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 130 Abs 1 Satz 2 GVG) ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des BSG nunmehr der 5. Senat zuständig.

B. Die kraft Zulassung durch das BSG statthafte und im Übrigen zulässige Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Soweit mit der Klage neben der Zahlung zunächst auch eine Feststellung begehrt worden ist, hat der Kläger dies bereits im Berufungsverfahren nicht weiter verfolgt. Zutreffend hat das LSG der Berufung des Klägers den Erfolg versagt.

I. Die Klage ist mit dem auf Zahlung an den Beigeladenen zu 1 gerichteten Hauptantrag jedenfalls unbegründet.

1.a) Der Kläger verfolgt sein Begehren zwar zutreffend mit der Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG). Die (echte) Leistungsklage ist statthaft, wenn geltend gemacht wird, es liege ein bindender Verwaltungsakt (§ 77 SGG) vor, der beklagte Leistungsträger die bewilligte Leistung aber nicht oder nicht mehr erbringe (vgl BSG Urteil vom 11.6.1986 - 6 RKa 4/85 - BSGE 60, 122, 122 f = SozR 1500 § 97 Nr 6 S 4; aus jüngerer Zeit zB BSG Urteil vom 6.11.2018 - B 1 KR 30/18 R - SozR 4-1500 § 164 Nr 8 RdNr 14; BSG Urteil vom 11.12.2019 - B 6 KA 10/18 R - SozR 4-7610 § 406 Nr 1 RdNr 20). So ist es hier. Der Kläger behauptet eine fortbestehende Zahlungsverpflichtung der Beklagten gegenüber dem Beigeladenen zu 1 aus dem bestandskräftigen Rentenbescheid vom 4.4.2006.

b) Es ist aber bereits zweifelhaft, ob der Kläger prozessführungsbefugt ist.

aa) Eine gesetzliche Prozessstandschaft besteht nicht. Der Kläger ist nicht aufgrund seines Amts zur Führung dieses Prozesses im eigenen Namen berechtigt. Das umfassende Verwaltungs- und Verfügungsrecht des Insolvenzverwalters (§ 80 Abs 1 InsO) ist, abgesehen von den hier nicht betroffenen Fällen der §§ 165 f InsO, auf die zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögensgegenstände beschränkt (vgl zB BSG Urteil vom 31.5.2016 - B 1 KR 38/15 R - BSGE 121, 194 = SozR 4-7912 § 96 Nr 1, RdNr 9; BGH Urteil vom 15.5.2003 - IX ZR 218/02 - juris RdNr 12). Die streitbefangenen Zahlungsansprüche aus der zuerkannten Altersrente für Juni 2010 bis Mai 2014 gehörten gemäß § 36 Abs 1 Satz 1 und 2 InsO iVm § 850 Abs 1 ZPO nicht zur Insolvenzmasse, denn sie unterfielen der Zwangsvollstreckung nicht. Ausgehend von der Gesamtheit der für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) lagen die Zahlbeträge durchgehend unterhalb der jeweils geltenden Pfändungsfreigrenze für Arbeitseinkommen (§ 850 Abs 1 iVm § 850c ZPO und der jeweils geltenden Pfändungsfreigrenzenverordnung), deren Höhe im Einzelfall von den gesetzlichen Unterhaltsverpflichtungen abhängt und die seinerzeit bei mindestens 985,15 Euro (bis 30.6.2011); 1028,89 Euro (vom 1.7.2011 bis zum 30.6.2013) bzw 1045,04 Euro (ab 1.7.2013) monatlich lag. Das wird vom Kläger auch nicht in Abrede gestellt. Eine Zusammenrechnung des in der Revisionsbegründung mitgeteilten Einkommens des Beigeladenen zu 1 aus einer Nebenbeschäftigung mit den verbliebenen Zahlungsansprüchen gegen die Beklagte (§ 36 Abs 1 Satz 2 InsO iVm § 850e Nr 2a ZPO), die den Insolvenzbeschlag erweitert hätte, hat der Kläger auch nach eigenen Angaben schon nicht beantragt.

Dass nunmehr kumulierte Zahlungsansprüche für einen längeren Zeitraum mit einem Zahlbetrag iHv 4800 Euro geltend gemacht werden und damit ein Gesamtbetrag oberhalb aller im streitbefangenen Zeitraum geltenden Pfändungsfreigrenzen, gibt zu keiner abweichenden Beurteilung Anlass. Maßgeblich für die Berechnung des nach § 850c ZPO pfändbaren Teils einer Sozialleistung ist der Leistungszeitraum, für den sie gezahlt wird (vgl zB BGH Beschluss vom 25.10.2012 - VII ZB 74/11 - juris RdNr 20; Herget in Zöller, ZPO, 34. Aufl 2022, § 850c RdNr 3).

bb) Ob der Kläger eine gewillkürte Prozessführungsbefugnis aus dem Schreiben des Beigeladenen zu 1 aus Oktober 2011 herleiten kann, erscheint fraglich. Die Auslegung des Schreibens (§§ 133, 145 BGB) ergibt zwar, dass der Kläger zur gerichtlichen Geltendmachung der behaupteten Forderung gegen die Beklagte ermächtigt werden sollte, indem der Beigeladene zu 1 sich damit einverstanden erklärt, dass die behaupteten Zahlungsansprüche im Namen der Insolvenzmasse geltend gemacht werden (vgl zur rechtlichen Konstruktion der häufig mit einer Einziehungsermächtigung kombinierten Prozessführungsermächtigung und ihrer Akzeptanz in der Praxis zB Grüneberg in Grüneberg, BGB, 81. Aufl 2022, § 398 RdNr 32 ff mwN). Es bestehen jedoch Zweifel sowohl an der rechtlichen Wirksamkeit der erteilten Ermächtigung als auch an einem schutzwürdigen Interesse des Klägers, Ansprüche des Beigeladenen zu 1 geltend zu machen.

Für den Zivilprozess ist anerkannt, dass jemand ein fremdes Recht aufgrund einer ihm von dem Berechtigten erteilten Ermächtigung im eigenen Namen im Prozess...

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