Urteil Nr. B 6 KA 33/17 R des Bundessozialgericht, 2018-06-27

Judgment Date27 Junio 2018
ECLIDE:BSG:2018:270618UB6KA3317R0
Judgement NumberB 6 KA 33/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Vertragsärztliche Versorgung - Auswahlentscheidung zur Besetzung eines aufgrund des Demografiefaktors ausgeschriebenen Arztsitzes - Zulassungsgremien - besondere Berücksichtigung des Versorgungsbedarfs älterer Menschen
Leitsätze

Bei der Auswahlentscheidung zur Besetzung eines Arztsitzes, der aufgrund des Demografiefaktors ausgeschrieben worden ist, dürfen die Zulassungsgremien den Versorgungsbedarf älterer Menschen besonders berücksichtigen.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Thüringer Landessozialgerichts vom 25. August 2016 und des Sozialgerichts Gotha vom 13. Mai 2015 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 25. August 2016 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gesamten Verfahrens in allen Rechtszügen mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen zu 1. bis 7.

Tatbestand

Im Streit steht die Besetzung eines Vertragsarztsitzes für das Fachgebiet der Orthopädie.

Der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen stellte im Januar 2011 fest, dass im Planungsbereich Jena in der Arztgruppe der Orthopäden eine Überversorgung nicht mehr besteht. Mit Beschluss vom 26.1.2011 öffnete er den bislang gesperrten Planungsbereich ua für eine Zulassung auf dem Gebiet der Orthopädie. Daraufhin wurde im Thüringer Ärzteblatt der Vertragsarztsitz ausgeschrieben. Es bewarben sich ua der Kläger und die Beigeladene zu 8.

Der 1961 geborene Kläger ist seit 1987 approbiert. Seit 1995 ist er Facharzt für Chirurgie und seit September 2005 besitzt er die Berechtigung zur Führung der Bezeichnung "Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie". Er war bis 2005 Arzt an der chirurgischen Klinik der F. und von Januar 2006 bis März 2009 halbtags als Weiterbildungsassistent für Handchirurgie in der Praxis des Dr. S. beschäftigt. Seit April 2009 war er dort als angestellter Arzt gemeinsam im Jobsharing mit Dr. S. tätig. In die Warteliste für das Fachgebiet Orthopädie ist er seit September 2005 eingetragen. Bereits zuvor hatte er sich um eine Niederlassung im Fachgebiet Chirurgie bemüht.

Die 1966 geborene Beigeladene zu 8. wurde im März 1994 approbiert. Sie schloss ihre Weiterbildung als Fachärztin für Orthopädie im Juni 1999 ab. Sie war bis April 2008 als Stationsärztin am R. tätig. Danach arbeitete sie als in Teilzeit angestellte Ärztin in der orthopädischen Praxis Dr. W. in B. . Zusätzlich war sie als angestellte Ärztin in anderen Einrichtungen tätig. Seit November 2007 ist sie in der Warteliste eingetragen.

Der Zulassungsausschuss (ZA) ließ mit Beschluss vom 19.4.2011, ausgefertigt am 18.5.2011, einen weiteren Bewerber (Dr. W. ) zur vertragsärztlichen Tätigkeit zu und lehnte die Anträge auf Zulassung des Klägers und der Beigeladenen zu 8. ab. Sowohl der Kläger wie auch die Beigeladene zu 8. legten gegen die Entscheidung Widerspruch ein.

Daraufhin hob der Beklagte den Bescheid des ZA mit Beschluss vom 10.8.2011/Bescheid vom 21.9.2011 auf, ließ den Kläger zur vertragsärztlichen Tätigkeit zu und ordnete die sofortige Vollziehung an. Den Widerspruch der Beigeladenen zu 8. wies er zurück. Der Kläger war daraufhin bis Ende des Jahres 2014 als Orthopäde in eigener Praxis tätig und rechnete die Behandlung gesetzlich Versicherter gegenüber der zu 7. beigeladenen KÄV ab.

Das Sozialgericht (SG) Gotha wies die Klage der Beigeladenen zu 8. ab (Urteil vom 11.1.2012 - S 7 KA 7221/11). Auf deren Berufung hob das Thüringer Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 5.12.2013 (Az L 11 KA 608/12) das Urteil des SG Gotha sowie die Entscheidung des Beklagten zur Zulassung des Klägers auf und verurteilte den Beklagten, über den Widerspruch der Beigeladenen zu 8. (Klägerin des damaligen Verfahrens) erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Unter anderem sei die besondere Gewichtung des Approbationsalters und der längeren fachärztlichen Tätigkeit des Klägers fehlerhaft gewesen, weil beide Ärzte länger als fünf Jahre fachärztlich tätig gewesen seien. Das von dem Beklagten bei seiner Entscheidung berücksichtigte Votum der Ärzteschaft vor Ort lasse objektive Kriterien vermissen. Die von dem Kläger (Beigeladener zu 8. des damaligen Verfahrens) und dem Beklagten gegen das Urteil des LSG eingelegten Nichtzulassungsbeschwerden hat der Senat mit Beschluss vom 2.7.2014 (Az B 6 KA 15/14 B), zugestellt am 28.7.2014, zurückgewiesen.

Daraufhin holte der Beklagte Auskünfte bei der Landesärztekammer Thüringen zu der Frage ein, ob der Kläger die Voraussetzungen der ihm erteilten Anerkennung als Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie auch tatsächlich erfüllt habe. Ferner befragte er die KÄV ua zum Spektrum der bisher vom Kläger und der Beigeladenen zu 8. erbrachten Leistungen und gab dem Kläger und der Beigeladenen zu 8. Gelegenheit darzulegen, wie sie die zu besetzende Stelle wahrzunehmen gedenken und auf welche beruflichen Vorerfahrungen diese Annahmen gestützt würden.

Mit Beschluss vom 5.11.2014/Bescheid vom 21.1.2015 hob der Beklagte die Zulassung des Klägers zum 31.12.2014 auf, ließ die Beigeladene zu 8. mit Wirkung zum 1.1.2015 zur vertragsärztlichen Versorgung zu und ordnete die sofortige Vollziehung an. In dem anschließenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hat das LSG die aufschiebende Wirkung der gegen den Beschluss des Beklagten erhobenen Klage wiederhergestellt (Beschluss vom 12.2.2015, Az L 11 KA 1626/14 B ER).

Die Entscheidung des Beklagten zur Zulassung der Beigeladenen zu 8. hat das SG Gotha mit Urteil vom 13.5.2015 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, eine erneute Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu treffen. Der Beschluss sei rechtswidrig, weil dieser rechtskräftige und die Beteiligten bindende gerichtliche Maßgaben für die Neubescheidung nicht berücksichtige. Zudem habe der Beklagte seine Entscheidung auf der Grundlage eines unvollständig ermittelten Sachverhalts getroffen oder, soweit entsprechende Ermittlungen angestellt worden sein sollten, habe er diese weder im angefochtenen Beschluss dargelegt noch in die Verwaltungsakten aufgenommen. Überdies habe er wesentliche entscheidungsrelevante Gesichtspunkte bei der Entscheidung nicht berücksichtigt bzw diese nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Abwägung eingestellt.

Das LSG hat die Berufung des Beklagten unter Bezugnahme auf die Gründe des sozialgerichtlichen Urteils, jedoch mit weiteren, von der Entscheidung des SG teilweise abweichenden Maßgaben zurückgewiesen. Danach habe der Beklagte bei der Neubescheidung ua davon auszugehen, dass die Tätigkeit des Klägers in eigener Praxis nach der Zulassungsentscheidung des Beklagten vom 10.8.2011 (Bescheid vom 21.9.2011) für die Auswahlentscheidung nicht maßgebend sei (Nr 2 der Entscheidungsgründe des LSG). Ferner bedürfe die Frage, ob das bisherige Verhalten der Beigeladenen zu 8. unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebotes kritisch zu sehen sei, im Rahmen des hier streitigen Zulassungsverfahrens keiner Erörterung (Nr 5 der Entscheidungsgründe des LSG).

Gegen das Urteil des LSG wenden sich der Beklagte und der Kläger mit ihren Revisionen.

Der Beklagte trägt vor, dass das LSG den ihm zustehenden Ermessensspielraum unzulässig beschränkt habe. Er habe den Sachverhalt in Bezug auf beide Bewerber und die gemäß § 23 Abs 3 S 1 Nr 3 Bedarfsplanungs-Richtlinie (in der ab dem 1.4.2007 geltenden Fassung, BAnz Nr 64 vom 31.3.2007, S 3491, im Folgenden: BedarfsplRL 2007) zu berücksichtigenden Kriterien vollständig und richtig ermittelt. Danach bestünden zwischen den beiden Bewerbern keine relevanten Unterschiede bezogen auf das Approbationsalter und die Dauer der ärztlichen Tätigkeit nach Abschluss der Weiterbildung. Die um 26 Monate längere Dauer der Eintragung in die Warteliste der Orthopäden sei jedenfalls im Hinblick auf die Gesamtdauer der Wartezeit nicht als maßgebliches Auswahlkriterium zu Gunsten des Klägers gewertet worden. Vor diesem Hintergrund habe er sich bei seiner Ermessensentscheidung mit Versorgungsgesichtspunkten auseinandergesetzt. Dabei sei zu berücksichtigen gewesen, dass der zusätzliche Sitz in Jena als Folge der Aufnahme des sog Demografiefaktors in die BedarfsplRL frei geworden sei. Da weder der Kläger noch die Beigeladene zu 8. über die in § 8a Abs 9 BedarfsplRL 2007 (idF des Beschlusses des GBA vom 15.7.2010, BAnz Nr 180 S 3954) angesprochene gerontologische oder geriatrische Qualifikation verfügten, sei im Rahmen des Auswahlermessens berücksichtigt worden, welcher Bewerber über solche Fachgebietsschwerpunkte oder Zusatzqualifikationen verfüge, die jedenfalls in der Behandlung älterer Patienten häufiger Anwendung fänden. Unter dieser Prämisse sei der Ausschuss zu der Auffassung gelangt, dass der Behandlungsbedarf bei älteren Patienten erfahrungsgemäß im Schwerpunkt durch altersbedingte Beschwerden des Haltungs- und Bewegungsapparates bedingt sei. Hierfür würden soweit wie möglich konservative, dh nicht operative Behandlungsmethoden eingesetzt. Dafür sei die Beigeladene zu 8., die in ihrer gesamten bisherigen Tätigkeit einen eher konservativen orthopädischen Schwerpunkt gehabt habe und die über die Zusatzqualifikationen in den Bereichen physikalische Therapie, Balneologie, Spinalnerven-Analgesien und Akupunktur verfüge, besser als der Kläger geeignet. Bei dem Kläger dominiere die konservative Tätigkeit erst seit seiner Zulassung in eigener vertragsärztlicher Praxis im August 2011.

Der Beklagte und die Beigeladene zu 8., die sich der Auffassung des Beklagten anschließt und ergänzend auf ihr Vorbringen im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde (Az B 6 KA 9/17 B) verweist, beantragen,
1. das Urteil des Thüringer LSG vom 25.8.2016 und das Urteil des SG Gotha vom 13.5.2015 aufzuheben und die Klagen abzuweisen,
2. die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,
1. die Revision des Beklagten zurückzuweisen,
2. das Urteil des Thüringer LSG vom 25.8.2016 insoweit zu ändern, als die Maßgaben nach Ziffern 2 und 5 der Entscheidungsgründe aufgehoben...

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