Urteil Nr. B 7 AS 24/22 R des Bundessozialgericht, 2023-12-13
Judgment Date | 13 Diciembre 2023 |
ECLI | DE:BSG:2023:131223UB7AS2422R0 |
Judgement Number | B 7 AS 24/22 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 17. Februar 2022 wird auf die Revision der Klägerin geändert und auf die Revision des Klägers aufgehoben.
Der Tenor des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Magdeburg vom 18. Februar 2021 wird in Bezug auf das Begehren des Klägers klarstellend neugefasst, indem nur der Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 2020 aufgehoben wird. Die Berufung des Beklagten gegen den vorbenannten Gerichtsbescheid wird insoweit zurückgewiesen.
Der Beklagte wird verpflichtet, für die Zeit vom 1. November 2018 bis 30. April 2019 den Leistungsanspruch der Klägerin unter Berücksichtigung eines monatlichen Durchschnittseinkommens des früheren Ehemannes von 173,33 Euro abschließend festzusetzen. Im Übrigen wird die Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägern auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Im Streit ist die abschließende Entscheidung über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 1.11.2018 bis 30.4.2019 sowie die Erstattung vorläufig gezahlter Leistungen.
Die Klägerin lebte im genannten Zeitraum mit ihrem Ehemann (künftig: E) und dem 2016 geborenen Sohn, dem Kläger, in einem Haushalt. Ab Mai 2019 waren die Eheleute getrennt. E war im Leistungszeitraum, wie auch davor, mit einem Autoreparaturservice selbständig tätig. Die Kläger und E standen fortlaufend im Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Wegen des Einkommens des E aus selbständiger Tätigkeit wurden Leistungen nur vorläufig bewilligt, so auch für den Zeitraum vom 1.11.2018 bis 30.4.2019 (Bescheid vom 19.11.2018). Im Weiterbewilligungsantrag von Oktober 2018 waren für November 2018 bis April 2019 erwartete monatliche Gewinne von durchschnittlich 163,33 Euro angegeben.
Dem von der Klägerin für sich und ihren Sohn gestellten Weiterbewilligungsantrag (vom 30.4.2019) war beigefügt die von E unterschriebene Anlage EKS mit abschließenden Angaben für die Zeit vom 1.11.2018 bis 30.4.2019. Danach erzielte er Betriebseinnahmen im November 2018 von 180 Euro, im Dezember 2018 von 150 Euro, im Januar 2019 von 160 Euro, im Februar 2019 von 150 Euro, im März 2019 von 180 Euro und im April 2019 von 220 Euro. Weitere Angaben oder Anlagen enthielt das ausgefüllte Formular nicht.
Das beklagte Jobcenter forderte in an E und die Klägerin gerichteten Schreiben (vom 10.5.2019) unter Fristsetzung bis 5.6.2019 auf, Nachweise über die Einnahmen im Rahmen der Selbständigkeit vorzulegen ("… soweit vorhanden: Ausgangsrechnungen, Kontoauszüge, Quittungen, Kassenbuch etc., sonst fortlaufende Auflistung über die Einnahmen entsprechend meiner Aufforderung aus dem Bewilligungsbescheid vom 19.11.2018 …"). An die Erledigung wurden beide unter Fristsetzung bis 26.6.2019 erinnert (ein Schreiben an beide vom 7.6.2019). Daraufhin teilte E mit (Schreiben vom 24.6.2019), er besitze keine Quittungen bzw habe keine ausgestellt. In der Vergangenheit habe es bei der Einreichung seiner Papiere keine Beanstandungen gegeben.
Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten abschließenden Entscheidung, wonach im Leistungszeitraum ein Anspruch nicht bestehe und Leistungen zu erstatten seien, teilte die Klägerin im Juli 2019 mit, sie lebe seit Mai 2019 von E getrennt und sei nicht in der Lage, Nachweise über dessen Einnahmen vorzulegen. Sie habe zu keinem Zeitpunkt Einblick in den Geschäftsbetrieb gehabt.
Der Beklagte stellte sodann fest, dass ein Leistungsanspruch von November 2018 bis April 2019 nicht bestanden habe (sog Nullfeststellung) und gezahlte Leistungen iH von 4263,64 Euro zu erstatten seien (Bescheid vom 21.8.2019; Widerspruchsbescheid vom 28.7.2020). Auch gegenüber E erfolgte eine entsprechende Feststellung; er habe zudem 3082,40 Euro zu erstatten (Bescheid ebenfalls vom 21.8.2019).
Die Klagen, gerichtet allein auf die Aufhebung des Bescheids vom 21.8.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.7.2020, haben vor dem SG Erfolg gehabt (Gerichtsbescheid vom 18.2.2021). Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Bescheide seien aufzuheben, weil es an einer ordnungsgemäßen schriftlichen Belehrung über die Rechtsfolgen fehle. Die Klägerin sei insbesondere nicht darüber belehrt worden, dass nach der Rechtsprechung des BSG auch noch im Widerspruchsverfahren vorgelegte Unterlagen zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen zu berücksichtigen seien. Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG den Gerichtsbescheid aufgehoben und die Klage(n) abgewiesen (Urteil vom 17.2.2022). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Rechtsfolgenbelehrung sei zwar teilweise unrichtig, denn es widerspreche sowohl dem Gesetzeswortlaut als auch der Rechtsprechung des BSG, dass nach Ablauf des 5.6.2019 eingereichte Unterlagen nicht mehr berücksichtigt würden. Dieser Fehler wirke sich aber nicht auf die Rechtmäßigkeit des Bescheids aus, da E ohnehin erklärt habe, keine Belege vorlegen zu können. Auf die Richtigkeit der Belehrung hinsichtlich der Frist komme es daher nicht an. Zudem habe der Beklagte selbst nach Fristablauf sowohl die Klägerin als auch E zur Vorlage von Belegen ergebnislos aufgefordert. Die fehlende Mitwirkung des E sei den Klägern zuzurechnen, denn sie hätten mit diesem im Leistungszeitraum in einer Bedarfsgemeinschaft gelebt.
Mit ihren vom Senat zugelassenen Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung des § 41a Abs 3 SGB II. Sie seien im Zeitpunkt der Aufforderung, Nachweise vorzulegen, nicht mehr Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft mit E und auch tatsächlich nicht in der Lage gewesen, entsprechende Unterlagen, die sich auf dessen selbständige Tätigkeit bezogen hätten, beizubringen. Zudem sei die Rechtsfolgenbelehrung inhaltlich objektiv unrichtig und die gesetzte Frist zu kurz bemessen.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 17. Februar 2022 aufzuheben, die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 18. Februar 2021 zurückzuweisen und den Beklagten zu verpflichten, für die Zeit vom 1. November 2018 bis 30. April 2019 abschließend Leistungen in Höhe der vorläufig bewilligten festzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
Die zulässigen Revisionen der Kläger sind überwiegend begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und aufzuheben. Die Voraussetzungen für die Feststellung, dass ein Leistungsanspruch nicht bestanden hat, lagen nicht vor.
1. Gegenstand des Verfahrens sind der Bescheid vom 21.8.2019 und der Widerspruchsbescheid vom 28.7.2020, mit dem der Beklagte festgestellt hat, dass für die Zeit vom 1.11.2018 bis 30.4.2019 Leistungsansprüche nicht bestehen.
2. Die Kläger verfolgen ihr Begehren, den Bescheid vom 21.8.2019 über die sog "Nullfeststellung" aufzuheben und die Verpflichtung des Beklagten, abschließend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe der vorläufig festgestellten und ausgezahlten Leistungen zu bewilligen, zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, § 56 SGG; BSG vom 8.2.2017 - B 14 AS 22/16 R - juris RdNr 10 mwN; zuletzt BSG vom 29.11.2022 - B 4 AS 64/21 R - SozR 4-4200 § 41a Nr 7 RdNr 12 mwN, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen), gerichtet auf ein Grundurteil im Höhenstreit (BSG vom 11.11.2021 - B 14 AS 41/20 R - SozR 4-4200 § 11b Nr 14 RdNr 12). Einer isolierten Anfechtung der abschließenden Entscheidung mit dem Ziel, die vorläufig bewilligten Leistungen weiter behalten zu dürfen, fehlt im Grundsatz (zur Ausnahme für den Fall, dass die Fiktionswirkung eingetreten ist, vgl BSG vom 27.9.2023 - B 7 AS 17/22 R - RdNr 13 f, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) das Rechtsschutzbedürfnis, weil das Verfahren zur abschließenden Feststellung der Leistungshöhe nach vorläufiger Bewilligung durch einen entsprechenden Leistungsbescheid abzuschließen ist. Allein die Aufhebung eines abschließenden Bescheids beendet das Verfahren nicht dauerhaft. Auch wenn die Behörde bis zum Ablauf eines Jahres nach Ende des Bewilligungszeitraums einen abschließenden Bescheid erlassen hat, tritt die Fiktionswirkung (als weitere gesetzlich vorgesehene Option des Verfahrensabschlusses) selbst dann nicht (wieder) ein, wenn dieser Bescheid im Rechtsbehelfs- oder Klageverfahren aufgehoben oder geändert wird. Es fehlte also an einer abschließenden Entscheidung (BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 39/17 R - BSGE 126, 294 = SozR 4-4200 § 41a Nr 1, RdNr 11, 33 f mwN). In der deshalb gebotenen, wenn auch erst im Revisionsverfahren erfolgten Erweiterung der Klage um die Verpflichtung, die Leistungen in der bisher gezahlten Höhe festzusetzen und infolgedessen die bereits gezahlten Leistungen behalten zu dürfen, liegt keine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung (§ 99 Abs 3 Nr 2 SGG; § 168 SGG). Höhere Leistungen als vorläufig bewilligt haben die Kläger im gesamten Klageverfahren nicht geltend gemacht.
3. Der Beklagte hat zu Unrecht festgestellt, dass ein Leistungsanspruch der Kläger für die Zeit von November 2018 bis April 2019 nicht besteht.
a) Rechtsgrundlage für die abschließende Feststellung des Leistungsanspruchs bildet § 41a Abs 3 SGB II und für die geltend gemachte Erstattung § 41a Abs 6 Satz 3 SGB II (in der bis 31.3.2021 maßgeblichen Normfassung des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26.7.2016, BGBl I 1824). Nach § 41a Abs 3 Satz 1 SGB II entscheiden die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch, sofern die vorläufig...
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