Urteil Nr. B 7 AS 16/22 R des Bundessozialgericht, 2023-12-13

Judgment Date13 Diciembre 2023
ECLIDE:BSG:2023:131223UB7AS1622R0
Judgement NumberB 7 AS 16/22 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. September 2021 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. September 2014 geändert sowie der Beklagte unter Änderung des Erstattungsbescheids und des Festsetzungsbescheids jeweils vom 9. Februar 2012, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Juni 2012 verpflichtet, Leistungen für den Regelbedarf der Klägerin von Juni bis November 2011 abschließend auf monatlich 295,39 Euro sowie den Erstattungsbetrag auf 18,94 Euro im Monat festzusetzen.

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin 4/5 der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über höheres Alg II für Juni bis November 2011 unter Berücksichtigung weiterer Ausgaben der Klägerin bei der Ermittlung des anzurechnenden Einkommens.

Die 1969 geborene, alleinstehende Klägerin ist als Rechtsanwältin selbständig tätig. Sie entrichtete Beiträge zum Versorgungswerk iHv monatlich 109,45 Euro. Außerdem fielen Kosten für öffentliche Verkehrsmittel iHv monatlich höchstens 33,50 Euro an. Das beklagte Jobcenter setzte Alg II für Juni bis November 2011 nach vorläufiger Bewilligung (monatlich 692,33 Euro Alg II, davon 314,33 Euro Regelbedarf) abschließend iHv monatlich 448,11 Euro fest und forderte die Erstattung von insgesamt rund 1465 Euro (Bescheide vom 9.2.2012). Er ging von einem monatlichen Einkommen über 400 Euro aus. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens berücksichtigte er weitere Betriebsausgaben. Dadurch verringerte sich das Betriebsergebnis ("monatliches Bruttoeinkommen") auf unter 400 Euro im Monat, erhöhte sich der monatliche Anspruch der Klägerin auf Alg II und reduzierte sich die Erstattungsforderung auf rund 593 Euro (Widerspruchsbescheid vom 4.6.2012).

Das SG hat der auf höheres Alg II gerichteten Klage nur in geringem Umfang stattgegeben und die Berufung zugelassen (Urteil vom 2.9.2014). Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 10.9.2021). Es hat für den verfahrensgegenständlichen Zeitraum Betriebseinnahmen iHv 33 462,96 Euro und Betriebsausgaben iHv 31 751,39 Euro festgestellt. Beiträge zum Versorgungswerk und Fahrkosten seien nicht in voller Höhe zu berücksichtigen. Sie seien nicht als Betriebsausgaben absetzbar. Bei dem monatlichen Einkommen von weniger als 400 Euro seien über den Grundfreibetrag hinaus keine weiteren Absetzungen vorzunehmen.

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 2 und Abs 2 Satz 1 SGB II.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. September 2021 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. September 2014 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Festsetzungsbescheids und Aufhebung des Erstattungsbescheids jeweils vom 9. Februar 2012, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Juni 2012, zu verpflichten, der Klägerin von Juni bis November 2011 abschließend Leistungen für Regelbedarf in Höhe von 325,24 Euro zu bewilligen sowie unter Anrechnung der bisher erbrachten Leistungen zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist teilweise begründet, weil ihr Anspruch auf Alg II von Juni bis November 2011 höher ist als zuletzt durch das LSG entschieden. Daher verringert sich auch die Erstattungsforderung des Beklagten. Allerdings ist der Ansicht der Klägerin zur vollen Absetzung der Beiträge zum Versorgungswerk als Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung sowie zur Berücksichtigung der Fahrkosten als Betriebsausgaben nicht zu folgen. Insoweit kann sie mit ihrem auf die abschließende Festsetzung von Leistungen für den Regelbedarf iHv 325,24 Euro gerichteten Verpflichtungsantrag nicht voll sowie mit ihrem auf die Zahlung weiterer Leistungen gerichteten Begehren nicht durchdringen und ist ihre Revision unbegründet.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den im Wesentlichen klageabweisenden vorinstanzlichen Urteilen die Bescheide vom 9.2.2012 über die abschließende Festsetzung und Erstattung von Alg II von Juni bis November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.6.2012. Diese Entscheidungen hat die Klägerin angegriffen und begehrt die abschließende Festsetzung höherer Leistungen als vorläufig bewilligt. Ihr Begehren verfolgt sie zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 iVm § 56 SGG; anders noch BSG vom 6.6.2023 - B 11 AL 38/21 R - vorgesehen für BSGE und SozR; demgegenüber schon BSG vom 11.11.2021 - B 14 AS 41/20 R - SozR 4-4200 § 11b Nr 14 RdNr 11). Insoweit verschafft ihr die Verpflichtung des Beklagten zur höheren Festsetzung der Leistungen einen Rechtsgrund für das Behaltendürfen weiterer Teile des infolge der vorläufigen Bewilligung bereits erbrachten Alg II (vgl BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 39/17 R - BSGE 126, 294 = SozR 4-4200 § 41a Nr 1, RdNr 10). Nur für den über die vorläufige Bewilligung hinaus geltend gemachten Anspruch kommt die Zahlung weiterer Leistungen in Betracht. Auch die Beschränkung des Streitgegenstandes auf die Leistungen für Regelbedarfe und Mehrbedarfe ist zulässig (vgl BSG vom 7.12.2017 - B 14 AS 6/17 R - BSGE 125, 22 = SozR 4-4200 § 21 Nr 28, RdNr 10). Sie ist von der Klägerin ausdrücklich erklärt worden.

2. Rechtsgrundlage der angegriffenen Bescheide sind § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II (idF der Neubekanntmachung vom 13.5.2011, BGBl I 850) iVm § 328 Abs 2 und 3 Satz 1 und 2 Halbsatz 1 SGB III (idF des Ersten SGB III-Änderungsgesetzes vom 16.12.1997, BGBl I 2970). Nach diesen Vorschriften sind - wenn eine vorläufige Entscheidung aufzuheben oder zu ändern ist - auf Grund der vorläufigen Entscheidung erbrachte Leistungen auf die zustehende Leistung anzurechnen. Soweit mit der abschließenden Entscheidung ein Leistungsanspruch nicht oder nur in geringerer Höhe zuerkannt wird, sind auf Grund der vorläufigen Entscheidung erbrachte Leistungen zu erstatten.

Hier hatte der Beklagte zutreffend Alg II vorläufig bewilligt. Sodann hat er mit einem der Bescheide vom 9.2.2012 Leistungen abschließend festgesetzt. Zwar ist dieser Bescheid mit "Änderungsbescheid" überschrieben. Auf diese Überschrift kommt es aber nicht entscheidend an. Vielmehr kann ein als "Änderungsbescheid" bezeichneter Bescheid nach den allgemeinen Regeln der Auslegung als abschließende Entscheidung anzusehen sein (BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 5 RdNr 14 mwN). Nach diesen Auslegungsregeln wird vorliegend infolge der vorangegangenen, ausdrücklich wegen der Erzielung von Einkommen in noch zu klärender Höhe erfolgten vorläufigen Bewilligung, der Verwendung der Formulierung, es werde "endgültig bewilligt", der Bezugnahme der endgültigen Bewilligung auf die eingereichten Unterlagen sowie des Erlasses des Festsetzungsbescheids nach Ablauf des Bewilligungszeitraums hinreichend deutlich, dass der Beklagte eine abschließende Entscheidung getroffen hat. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte die Erstattungsforderung in einem gesonderten Verwaltungsakt geltend gemacht hat. Der Erstattungsverwaltungsakt ist im engen zeitlichen Zusammenhang mit der abschließenden Bewilligung erlassen worden (vgl BSG vom 11.11.2021 - B 14 AS 41/20 R - SozR 4-4200 § 11b Nr 14 RdNr 14).

3. Der Beklagte hat formell rechtmäßig die abschließende Festsetzung und Erstattung von vorläufig erbrachtem Alg II verfügt (dazu 4.). Die Alg II-Leistungsansprüche hat er zu niedrig festgesetzt. Zwar sind die Beiträge zum Versorgungswerk keine Betriebsausgaben, auch wenn die Absetzung als Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung in direkter Anwendung des § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB II nicht in Betracht kommt (dazu 5.). Ein Teil der Beiträge ist aber wie Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung als Absetzbeträge zu berücksichtigen (dazu 6.). Die Höhe des Einkommens hat Einfluss auf die Berücksichtigung von durch den Grundfreibetrag abgedeckten Absetzpositionen. Insoweit betragen die geltend gemachten Aufwendungen nicht mehr als 100 Euro (dazu 7.).

4. Der formellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verwaltungsakte stünde nicht entgegen, wenn die Klägerin vor Erlass der Entscheidungen über die abschließende Festsetzung und Erstattung von Alg II vom 9.2.2012 nicht gemäß § 24 Abs 1 SGB X angehört worden wäre. Die Anhörung wäre jedenfalls im Widerspruchsverfahren nachgeholt und damit ein etwaiger Anhörungsfehler geheilt worden (§ 41 Abs 1 Nr 3 SGB X; zuletzt ua BSG vom 21.6.2023 - B 7 AS 3/22 R - RdNr 13).

5. Der Beklagte hat die Ansprüche der Klägerin auf Alg II für Juni bis November 2011 zu niedrig festgesetzt. Damit verringert sich auch die Erstattungsforderung.

Die Klägerin war im gesamten verfahrensgegenständlichen Bewilligungszeitraum von Juni bis November 2011 mit selbständiger Arbeit erwerbstätig. Einkommen aus der Erwerbstätigkeit verringerte ihre Hilfebedürftigkeit (§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1, § 9 Abs 1 SGB II). Bei der Ermittlung des anzurechnenden Einkommens sind ua die zur Berechnung des Einkommens im Einzelnen erlassenen Vorschriften der Alg II-V heranzuziehen (§ 13 Abs 1 Nr 1 SGB II). Gemäß § 3 Abs 1 Satz 1 Alg II-V (idF vom 17.12.2007, BGBl I 2942) ist beim Einkommen aus selbständiger Arbeit von den Betriebseinnahmen auszugehen. Zur Berechnung des Einkommens sind von den Betriebseinnahmen die im Bewilligungszeitraum tatsächlich geleisteten notwendigen Ausgaben mit Ausnahme der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge ohne Rücksicht auf steuerrechtliche Vorschriften abzusetzen. Für jeden Monat ist der Teil des Einkommens zu berücksichtigen, der sich bei der Teilung des Gesamteinkommens im Bewilligungszeitraum durch die Anzahl der Monate im Bewilligungszeitraum ergibt. Von dem Einkommen sind die Beträge nach § 11b SGB II abzusetzen (§ 3 Abs 2 und 4 Satz 1 und 3 Alg II-V idF des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches...

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