Urteil Nr. B 8 SO 12/17 R des Bundessozialgericht, 2019-04-04

Judgment Date04 Abril 2019
ECLIDE:BSG:2019:040419UB8SO1217R0
Judgement NumberB 8 SO 12/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Sozialgerichtliches Verfahren - Beiladung - Stellung eines Teilhabeantrags im Sinne des § 14 SGB IX beim Jobcenter - notwendige Beiladung der Bundesagentur für Arbeit - Sozialhilfe - Eingliederungshilfe - Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft - Übernahme durch BAföG-Leistungen nicht gedeckter Unterkunftskosten - Abdeckung durch andere Leistungen)
Leitsätze

Bedarfe für Kosten der Unterkunft können für behinderte Menschen auch zuschussweise durch Leistungen der Eingliederungshilfe (soziale Teilhabe) zu decken sein, soweit Kosten betroffen sind, die behinderungsbedingt über den abstrakt angemessenen Wohnkosten liegen.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 8. Dezember 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die zuschussweise Übernahme anteiliger Kosten für die Unterkunft der Klägerin für die Zeit von November 2012 bis April 2013.

Die 1985 geborene Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer zentralen Koordinationsstörung; ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "aG", "B" und "H" sind festgestellt. Eine Pflegestufe ist nicht zuerkannt. Ab dem Wintersemester 2011/2012 studierte die Klägerin Bibliotheks- und Informationswissenschaften und erhielt Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), darin anteilig enthalten 224 Euro für Unterkunftskosten. Sie bewohnte eine 62,75 qm große, behindertengerecht ausgestattete Wohnung, für welche sie monatlich 421 Euro zuzüglich 35 Euro für einen Tiefgaragenstellplatz bezahlen musste. Zur Fortbewegung innerhalb der Wohnung nutzte die Klägerin einen Aktivrollstuhl, zur Fortbewegung außerhalb der Wohnung einen Elektrorollstuhl.

Den zunächst beim Beigeladenen gestellten Antrag, ihr "Wohngeld nach dem SGB II" zu gewähren (Antrag vom 30.10.2011), weil sie wegen ihrer Behinderung eine Wohnung benötige, deren Kosten den im BAföG enthaltenen Anteil überstiegen, lehnte dieser ab (Bescheid vom 13.12.2011; Widerspruchsbescheid vom 6.3.2012). Im sich anschließenden Klageverfahren verurteilte das Sozialgericht (SG) Leipzig (Az: S 17 AS 1142/12) den Beigeladenen, als erstangegangenen Leistungsträger nach § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII; Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft) für die Zeit vom 1.11.2011 bis 31.10.2012 in Höhe von 232 Euro monatlich zu zahlen (Urteil vom 19.9.2012; Ausführungsbescheid des Beigeladenen vom 26.10.2012). Den Antrag der Klägerin für die Zeit ab 1.11.2011 (vom 26.10.2012) "leitete" der Beigeladene am 26.10.2012 an die Beklagte weiter. Diese lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 13.11.2012; Widerspruchsbescheid vom 30.4.2013).

In einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem SG (Az: S 21 SO 10/13 ER) verpflichtete dieses den Beigeladenen, vorläufig auch für die Zeit vom 11.1. bis 30.4.2013 monatlich 212 Euro zu zahlen (Beschluss vom 7.2.2013). Nachdem die Klägerin unter Verweis auf das Verfahren S 17 AS 1142/12 darüber hinaus Leistungen schon für die Zeit ab 1.11.2012 und - der Höhe nach - für den gesamten Zeitraum von 232 Euro geltend gemacht hatte (Schreiben vom 26.5.2013), bewilligte der Beigeladene für die Zeit vom 1.11.2012 bis 8.1.2013 "vorläufig", gestützt auf § 40 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) iVm § 328 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III), monatlich 232 Euro (Bescheid vom 6.8.2013); ab 11.1.2013 wurden, ohne zuvor Bescheide zu erlassen, monatlich ebenfalls 232 Euro gezahlt.

Die Klage gegen den Bescheid vom 13.11.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.4.2013 ist in beiden Instanzen ohne Erfolg geblieben (Urteil des SG vom 19.8.2015; Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts LSG> vom 8.12.2016). Die Klägerin könne die begehrten Leistungen weder als Eingliederungshilfe noch als Hilfe zum Lebensunterhalt bzw als Grundsicherung erhalten. Zwar habe sie grundsätzlich einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe, der auch Wohnungshilfen nach § 55 Abs 2 Nr 5 SGB IX umfasse. Die Übernahme laufender anteiliger Kosten der Unterkunft zähle jedoch nicht zu den Hilfen zur "Erhaltung" einer Wohnung. Ein Anspruch bestehe auch nicht gegenüber dem Beigeladenen. Die Klägerin sei von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen. Eine Berücksichtigung der erhöhten Mietaufwendungen als behinderungsbedingter Mehrbedarf nach § 21 Abs 6 SGB II oder in analoger Anwendung des § 24 SGB II komme nicht in Betracht, weil es sich nicht um einen ungedeckten Regelbedarf, sondern um einen erhöhten Bedarf für Unterkunft und Heizung handle. Eine zuschussweise Gewährung nach § 27 Abs 3 SGB II scheide aus; die Klägerin werde nicht vom Anwendungsbereich dieser Norm erfasst, weil sie in einem eigenen Haushalt lebe. Damit bleibe nur eine darlehensweise Leistungsgewährung auf der Grundlage von § 27 Abs 4 SGB II, welche die Klägerin jedoch ausdrücklich nicht begehre.

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision zum einen eine Verletzung der §§ 53 Abs 1 Satz 1, 54 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB XII iVm § 13 Eingliederungshilfe-Verordnung (EingliederungshilfeVO) und § 55 Abs 2 Nr 5 SGB IX, zum anderen des § 21 Abs 6 SGB II. Sie sei aufgrund ihres Studiums sowohl von Leistungen nach dem SGB XII als auch dem SGB II ausgeschlossen. Weder könne sie auf eine allein darlehensweise Leistungserbringung nach § 27 Abs 4 SGB XII verwiesen werden, noch sei eine Leistung für die Unterkunft systematisch als Eingliederungshilfe ausgeschlossen. Ein Anspruch müsse sich zumindest aus einer analogen Anwendung von § 21 Abs 6 SGB II ergeben. Mit der Notwendigkeit einer ausschließlich behinderungsbedingten größeren Wohnfläche entstehe eine abweichende Bedarfslage, die im System der Ausbildungsförderung nicht abschließend geregelt sei.

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom 8. Dezember 2016 und des Sozialgerichts Leipzig vom 19. August 2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. April 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. November 2012 bis 30. April 2013 monatlich 232 Euro als Zuschuss zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Der Beigeladene beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Beide halten die Ausführungen des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz SGG>), weil das Berufungsurteil an einem von Amts wegen zu berücksichtigenden wesentlichen Verfahrensmangel leidet; das LSG hätte die Bundesagentur für Arbeit (BA) nach § 75 Abs 2 1. Alt SGG als denkbaren anderen Rehabilitationsträger notwendig beiladen müssen (echte notwendige Beiladung).

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 13.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.4.2013 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die zuschussweise Leistungsgewährung von monatlich 232 Euro für die Zeit vom 1.11.2012 bis 30.4.2013 abgelehnt hat. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (zu Letzterer sogleich) nach § 54 Abs 1, 4, § 56 SGG, zeitlich und der Höhe nach begrenzt auf einen Zuschuss in Höhe von maximal 232 Euro monatlich. Insoweit handelt es sich auch um einen eigenständigen Streitgegenstand (vgl nur Bundessozialgericht BSG> vom 16.6.2015 - B 4 AS 37/14 R - SozR 4-4200 § 27 Nr 2 RdNr 12).

Gegen die ablehnenden Bescheide der Beklagten wendet sich die Klägerin zu Recht mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG) und - soweit die Klägerin Leistungen im Ergebnis eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens bereits erhalten hat bzw Leistungen vorläufig (mit und ohne ausdrücklicher Verwaltungsentscheidung) gewährt wurden (dazu gleich) - mit einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1, § 56 SGG). Mit der Verpflichtung zum Erlass eines Verwaltungsakts wird zugunsten der Klägerin ein Rechtsgrund für die Zahlung geschaffen; denn die einstweilige Anordnung verliert mit der endgültigen Entscheidung ihre Rechtswirkungen (vgl nur BSG vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 20/06 R - SozR 4-3500 § 90 Nr 1 RdNr 12 mwN).

Die Klage ist auch zulässig. Die bereits zuvor von der Klägerin erhobene und im Berufungsverfahren für erledigt erklärte Klage auf Feststellung der Zuständigkeit der Beklagten für die begehrte Leistung (Az: S 21 SO 12/13) steht dem schon deshalb nicht entgegen, weil es sich bei der Klage gegen die Ablehnung der Leistungen und der begehrten Verurteilung zur Leistung bzw der Verpflichtung zum Erlass eines Bewilligungsbescheids in der Sache um einen anderen Streitgegenstand (§ 123 SGG) handelt.

Der Zulässigkeit der Klage steht auch nicht das weitere, noch beim SG anhängige Klageverfahren (Az: S 6 AS 978/14) entgegen, in dem sich die Klägerin gegen die Mitteilung des Beigeladenen vom 29.10.2013 wendet, wonach für zurückliegende Zeiträume keine endgültigen Leistungsbescheide erlassen würden; denn diese Klage richtet sich nicht gegen die Beklagte, sondern den Beigeladenen. Zudem ist die vorliegende Klage jedenfalls zeitlich früher anhängig gemacht worden und schon deshalb nicht wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig.

Für die Zeit vom 1.11.2012 bis 8.1.2013 fehlt es einer Verpflichtungs- und Leistungsklage auch nicht deshalb am Rechtsschutzbedürfnis, weil der Beigeladene nach der Entscheidung des SG im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (Az: S 21 SO 10/13 ER) nicht nur den Beschluss des SG umgesetzt (Ausführungsbescheid vom 6.8.2013), sondern darüber hinaus, gestützt auf § 40 SGB II, § 328 SGB III, höhere als vom SG zugesprochene Leistungen...

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