Urteil Nr. B 8 SO 2/17 R des Bundessozialgericht, 2018-12-06

Judgment Date06 Diciembre 2018
ECLIDE:BSG:2018:061218UB8SO217R0
Judgement NumberB 8 SO 2/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Sozialhilfe - Hilfe zur Pflege - stationäre Pflege - Tod des Leistungsberechtigten - Einrichtungsträger als Rechtsnachfolger - Vermögenseinsatz - Einsatzgemeinschaft - nicht getrennt lebender Ehegatte - Verweigerung der Vermögensverwertung - Leistungserbringung gegen Aufwendungsersatz
Leitsätze

1. Verweigert der Partner einer Einstandsgemeinschaft den Einsatz seines Vermögens zugunsten des Hilfebedürftigen, hat der Sozialhilfeträger eine Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen über die Gewährung von Sozialhilfe gegen Ersatz seiner Aufwendungen (sog erweiterte bzw unechte Sozialhilfe) zu treffen.

2. Die Sonderrechtsnachfolge bei Leistungen in Einrichtungen und bei Pflegegeld nach dem Tod des Leistungsberechtigten erfasst Ansprüche auf erweiterte bzw unechte Sozialhilfe.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Juni 2016 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Im Streit ist ein Anspruch der Klägerin als Rechtsnachfolgerin der G (G) auf Zahlung der Kosten für deren stationäre Pflege vom 2.10.2014 bis zum 18.9.2015.

Die Klägerin betreibt in Heilbronn eine Pflegeeinrichtung und erbrachte G (im Anschluss an eine stationäre Behandlung in einem Krankenhaus) ab dem 2.10.2014 bis zu ihrem Tod am 18.9.2015 auf Grundlage eines Wohn- und Betreuungsvertrags (vom 2.10.2014) Pflegeleistungen. G erhielt Pflegeleistungen aus der sozialen Pflegeversicherung; über weiteres Einkommen und Vermögen verfügte sie nicht. Ihr Ehemann, mit dem sie vor ihrer stationären Aufnahme eine Mietwohnung in K bewohnt hatte, bezog eine deutsche Alters- und Betriebsrente (in Höhe von 471,32 Euro und 134,37 Euro monatlich) sowie eine türkische Rente (in Höhe von 138,17 Türkische Lira monatlich) und war Eigentümer einer Wohnung in der Türkei, deren Verkehrswert zum 1.1.2014 rund 30 000 Euro betrug. Er teilte der Beklagten seit dem 6.1.2015 wiederholt mit, dass er diese Wohnung zuletzt ausschließlich allein über mehrere Monate im Jahr genutzt habe und sie geschütztes Vermögen sei. Die Mietwohnung hatte der Ehemann nach der stationären Aufnahme der G noch bis Ende 2015 inne.

Die Beklagte lehnte den Antrag der anwaltlich vertretenen G auf Leistungen der Sozialhilfe zur vollstationären Unterbringung ab, weil die Wohnung des Ehemanns verwertbares Vermögen sei (Bescheid vom 21.9.2015). Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch, nachdem sie der Beklagten den Tod der G und ihren Eintritt in das Verfahren angezeigt hatte. Die Beklagte wies den Widerspruch als unzulässig zurück, weil der Ablehnungsbescheid mangels Bekanntgabe an G nicht wirksam geworden sei (Widerspruchsbescheid vom 14.10.2015), und lehnte auf die Klägerin übergegangene Ansprüche sodann ab (Bescheid vom 26.10.2015; Widerspruchsbescheid vom 16.11.2015).

Das Sozialgericht (SG) Heilbronn hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 2.10.2014 bis 18.9.2015 insgesamt 18 822,77 Euro nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozent über dem Basiszinssatz seit dem 11.12.2015 zu zahlen (Urteil vom 15.3.2016). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg zurückgewiesen (Beschluss vom 27.6.2016). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, der Anspruch der G auf Hilfe zur Pflege sei unverändert auf die Klägerin übergegangen. Deren ungedeckter Bedarf betrage nach den von der Beklagten nicht in Frage gestellten Berechnungen der Klägerin 18 822,77 Euro. Ob die Eigentumswohnung des Ehemanns als Vermögen einzusetzen und verwertbar gewesen sei, könne offen bleiben, da er zu deren Verwertung nicht bereit gewesen sei. Damit habe sie nicht zur Bedarfsdeckung zur Verfügung gestanden. Die Rechtsnachfolge stelle das Erfordernis bereiter Mittel nicht in Frage. Prozesszinsen seien ab Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 19 Abs 6 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Der Grundsatz der bereiten Mittel sei eine personenbezogene Voraussetzung für Ansprüche von Hilfebedürftigen, um existenzielle Notlagen tatsächlich zu beseitigen ("Tatsächlichkeitsprinzip"), der bei einer Rechtsnachfolge nicht anzuwenden sei, da keine Notlage mehr bestehe. Dies sei mit dem Ziel des Gesetzgebers, Hilfe durch Dritte zu fördern und den Leistungserbringer bei Tod des Hilfebedürftigen nicht leer ausgehen zu lassen, vereinbar, da § 19 Abs 6 SGB XII nur eingeschränkt werde und juristische Personen nicht des Schutzes der Existenzsicherung bedürften. Ausnahmen und Einschränkungen bei Anspruchsübergängen seien weder § 19 Abs 6 SGB XII noch der Rechtsordnung im Übrigen fremd.

Die Beklagte beantragt,
den Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Juni 2016 und das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 15. März 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des LSG-Beschlusses und der Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz SGG>).

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 26.10.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.11.2015 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte Zahlungen an die Klägerin als Rechtsnachfolgerin der G nach § 19 Abs 6 SGB XII abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich die Klägerin statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 56 SGG; vgl BSG vom 5.7.2018 - B 8 SO 30/16 R - SozR 4-3500 § 9 Nr 1 RdNr 11, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Die Klage ist auch im Übrigen zulässig; insbesondere steht ihr die Bestandskraft des Bescheids vom 21.9.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.10.2015 nicht entgegen (vgl § 77 SGG). Zwar war die Ablehnung vom 21.9.2015 den Rechtsnachfolgern der G gegenüber wirksam durch Übermittlung an den Bevollmächtigten bekanntgeben worden (§ 39 Abs 1 Satz 1, § 37 Abs 1 Satz 2 iVm § 13 Abs 2 Halbsatz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X>); denn eine Unterbrechung des Verwaltungsverfahrens durch den Tod von G war wegen ihrer anwaltlichen Vertretung analog § 246 Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO) nicht eingetreten (vgl nur BSG vom 13.7.2010 - B 8 SO 11/09 R - Juris RdNr 12 f). Die Klägerin hätte ihre Ansprüche als Sonderrechtsnachfolgerin damit - entgegen der Auffassung der Beklagten - zulässigerweise bereits zu diesem Zeitpunkt weiterverfolgen können. Allerdings hat die Beklagte der Klägerin im Widerspruchsbescheid zugesagt, von Amts wegen über (nunmehr übergegangene) Ansprüche in der Sache zu entscheiden, weil das Verwaltungsverfahren aus ihrer Sicht noch nicht beendet war. Da es sich insoweit jedenfalls nicht um eine nur wiederholende Verfügung handelt, eröffnet dies eine erneute Widerspruchs- und Klagemöglichkeit unabhängig davon, ob es sich bei dem sodann ergangenen Bescheid (vom 26.10.2015) um einen Bescheid gemäß § 44 SGB X oder um einen sog Zweitbescheid (vgl etwa BSG SozR 4-2600 § 89 Nr 3 RdNr 21 mwN; kritisch Steinwedel in Kasseler Komm, § 44 SGB X RdNr 18, Stand Juni 2018; zum Ganzen auch Giesbert in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 77 RdNr 71 ff) handelt.

Die Beklagte ist als örtlicher Sozialhilfeträger (§ 3 Abs 2 SGB XII iVm § 1 Abs 1 des Baden-Württembergischen Gesetzes zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - AGSGB XII vom 1.7.2004, GBl 469, 534, und § 131 Abs 1 Gemeindeordnung für Baden-Württemberg - Gemeindeordnung GemO> vom 24.7.2000, GBl 581, bereinigt 698) sachlich zuständig (§ 97 Abs 1 und Abs 2 Satz 1 SGB XII iVm § 2 AGSGB XII). Ihre örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 98 Abs 2 Satz 1 und Satz 2 iVm § 13 Abs 2 SGB XII, weil G ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 30 Abs 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT