Urteil Nr. B 8 SO 24/16 R des Bundessozialgericht, 2018-04-25

Judgment Date25 Abril 2018
ECLIDE:BSG:2018:250418UB8SO2416R0
Judgement NumberB 8 SO 24/16 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Sozialhilfe - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - Einkommenseinsatz - geringfügige Beschäftigung - Höhe der Absetz- und Freibeträge - Verfassungsmäßigkeit
Leitsätze

Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass Erwerbseinkommen bei Bezug von Leistungen der Grundsicherung im Alter nach dem SGB XII infolge geringerer gesetzlicher Freibeträge umfassender berücksichtigt wird als bei Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 28. April 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit sind höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) für die Zeit von Juni bis Dezember 2011.

Die im April 1946 geborene alleinstehende Klägerin, die im streitigen Zeitraum über kein Vermögen verfügte und eine Mietwohnung (Miete inklusive Nebenkosten 305,35 Euro, Heizungskosten 40,86 Euro) bewohnte, war von September 2010 bis Juni 2012 geringfügig beschäftigt und erzielte ein Bruttoarbeitsentgelt von 120 Euro monatlich. Bis April 2011 erhielt sie Arbeitslosengeld II (Alg II); dabei wurde ihr Erwerbseinkommen in Höhe von 16 Euro monatlich berücksichtigt (Bescheid vom 24.11.2010). Ab Mai 2011 bezog die Klägerin von der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover eine Altersrente (in den Monaten Mai und Juni in Höhe von 131,99 Euro monatlich, ab Juli 2011 in Höhe von 133,30 Euro monatlich; Bescheid vom 16.2.2011; Anpassung zum 1.7.2011).

Auf ihren Antrag bewilligte die Stadt Göttingen der Klägerin im Namen des Beklagten Grundsicherungsleistungen, zuletzt für die Zeit von Juni bis Dezember 2011 in Höhe von 497,86 Euro monatlich, errechnet aus einem Regelbedarf in Höhe von 364 Euro sowie Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 346,21 Euro und unter Berücksichtigung von Erwerbseinkommen in Höhe von 80,36 Euro (120 Euro abzüglich eines Betrags für Arbeitsmittel in Höhe von 5,20 Euro und eines aus dem Differenzbetrag errechneten Freibetrags in Höhe von 34,44 Euro) sowie Renteneinkommen in Höhe von 131,99 Euro (Bescheid vom 11.4.2011).

Während des von der Klägerin gegen diesen Bescheid geführten Widerspruchsverfahrens "übernahm" die Stadt Göttingen auf Antrag der Klägerin namens des Beklagten die sich aus der Nebenkostenabrechnung 2010 ergebende Nachforderung in Höhe von 293,47 Euro (Bescheid vom 31.5.2011) und bewilligte - unter teilweiser Änderung des Bescheids vom 11.4.2011 - Grundsicherungsleistungen für die Zeit von Juli 2011 bis Dezember 2011. Sie gewährte für Juli 2011 Leistungen in Höhe von 790,02 Euro und für die Zeit ab August 2011 in Höhe von 496,55 Euro, errechnet aus einem Bedarf in Höhe von 710,21 Euro (August bis Dezember 2011) bzw - aufgrund der Nebenkostennachforderung - 1003,68 Euro (Juli 2011) unter Anrechnung jeweils von Renteneinkommen in Höhe von 133,30 Euro und Erwerbseinkommen in Höhe von 80,36 Euro monatlich (Bescheid vom 8.8.2011). Der Widerspruch der Klägerin war teilweise erfolgreich. Für die Monate Mai bis August 2011 wurde Erwerbseinkommen (nur noch) "in Höhe von 37,80 Euro pro Monat auf den Grundsicherungsbedarf angerechnet" (120 Euro abzüglich 36 Euro Freibetrag, 5,20 Euro Arbeitsmittelpauschale und zudem 41 Euro Fahrtkosten; Widerspruchsbescheid des Beklagten unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter vom 24.8.2011); im Übrigen wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Im Anschluss bewilligte die Stadt Göttingen namens des Beklagten der Klägerin - unter Aufhebung des vorangegangenen Bewilligungsbescheids insoweit - für die Zeit von September bis Dezember 2011 Grundsicherungsleistungen in Höhe von monatlich 539,11 Euro, ebenfalls unter Berücksichtigung von Erwerbseinkommen in Höhe von monatlich 37,80 Euro (Bescheid vom 26.8.2011).

Die dagegen mit dem Ziel erhobene Klage, 21,80 Euro monatlich höhere Leistungen zu erlangen, ist nur im Sinne eines klarstellenden Tenors, im Übrigen jedoch nicht erfolgreich gewesen (Urteil des Sozialgerichts SG> Hildesheim vom 21.11.2013; Urteil des Landessozialgerichts LSG> Niedersachsen-Bremen vom 28.4.2016). Das LSG hat die zugelassene Berufung zurückgewiesen und zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, für die bedarfsmindernde Berücksichtigung des Erwerbseinkommens von 120 Euro sei kein anderer als der in § 82 Abs 3 Satz 1 SGB XII vorgesehene Betrag abzusetzen. Weder liege ein begründeter Fall iS von § 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII vor noch komme eine analoge Anwendung von § 11b Abs 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) in Betracht. § 82 SGB XII sei auch nicht verfassungswidrig. Die Regelung führe weder zu einer unzulässigen Diskriminierung wegen des Alters noch folge aus ihr eine faktische (mittelbare) Diskriminierung von Frauen (Art 3 Abs 2 Grundgesetz GG>).

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 82 SGB XII und Art 3 GG. Die uneingeschränkte Anwendung von § 82 SGB XII führe in einem Fall wie ihrem zu einer altersbedingten Diskriminierung. Erwerbseinkommen werde bei Bezug von Grundsicherungsleistungen nach Erreichen der Regelaltersgrenze gegenüber Erwerbseinkommen bei Bezug von Leistungen nach dem SGB II ohne sachlichen Grund stärker berücksichtigt. Zudem würden insbesondere Frauen durch diese Regelung diskriminiert. Die für Altersrentenbezieher ungünstigere Einkommensanrechnung betreffe aufgrund der durchschnittlich sehr geringen Rente überdurchschnittlich häufig Frauen; diese seien verstärkt auf einen Hinzuverdienst angewiesen. Durch Erhöhung der Freibeträge und der Hinzuverdienstgrenzen könne eine Angleichung an die durchschnittliche Altersrente von Männern "ungefähr erreicht" werden.

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 28. April 2016 und des Sozialgerichts Hildesheim vom 21. November 2013 sowie die Bescheide vom 11. April und 8. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. August 2011 und den Bescheid vom 26. August 2011 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. Juni bis zum 31. Dezember 2011 weitere Leistungen der Grundsicherung im Alter in Höhe von 152,60 Euro zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz SGG>). Der Klägerin steht ein Anspruch auf höhere Leistungen für die Zeit von Juni bis Dezember 2011 nicht zu.

Gegenstand des Revisionsverfahrens sind der Bescheid vom 11.4.2011 den Monat Juni 2011 betreffend sowie der Bescheid vom 8.8.2011, der im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 11.4.2011 die Leistungsbewilligung (einschließlich des "Übernahmebescheids" vom 31.5.2011) für die Monate Juli und August 2011 ersetzt hat (§ 86 SGG; vgl zur insoweit an den Wortlaut des § 96 SGG angepassten Auslegung des § 86 SGG nur Bundessozialgericht BSG> SozR 4-2600 § 307b Nr 10 RdNr 12; zur analogen Anwendung auf hier nicht streitbefangene Folgezeiträume BSG Urteil vom 17.6.2008 - B 8 AY 11/07 R - Juris RdNr 10), beide Bescheide in Gestalt des unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter (§ 116 SGB XII) erlassenen Widerspruchsbescheids vom 24.8.2011 (§ 95 SGG). Gegenstand des Verfahrens ist zudem der Bescheid vom 26.8.2011, der Änderungen für die Monate September bis Dezember 2011 enthält und für diese Monate die vorangehenden Regelungen nach § 96 SGG ersetzt hat (vgl zur Anwendung dieser Vorschrift auch auf zwischen Erlass des Widerspruchsbescheids und Klageerhebung ergangene Bescheide nur Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 96 RdNr 3a). Mit diesen Bescheiden sind (mit Ausnahme nur des Monats Juni 2011, dazu sogleich) jeweils höhere als zuvor gewährte Leistungen bewilligt worden; alle jeweils vorangegangenen Bescheide haben sich damit auch für die Zeit von Juli bis Dezember 2011 für den streitbefangenen Zeitraum durch diese Bescheide erledigt (§ 39 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X>; vgl dazu BSGE 121, 283 = SozR 4-3500 § 82 Nr 11, RdNr 11). Für den Monat Juni 2011 hat der Beklagte zwar nicht höhere Leistungen gewährt, jedoch in derselben Höhe über den Anspruch der Klägerin nochmals vollständig neu entschieden und daher im Wege eines Zweitbescheids den vorangegangenen Bescheid vom 1.4.2011 vollständig ersetzt, der sich dadurch "auf andere Weise" erledigt hat (ebenfalls § 39 Abs 2 SGB X; vgl dazu BSGE 95, 57 RdNr 10 = SozR 4-1300 § 48 Nr 6 RdNr 11; BSG SozR 4-2600 § 89 Nr 3 RdNr 17 f).

In zeitlicher Hinsicht hat die Klägerin den Streitgegenstand schon im Klageverfahren zulässig (vgl dazu nur BSG Urteil vom 13.7.2017 - B 8 SO 1/16 R, Juris RdNr 12, SozR 4-3250 § 14 Nr 26 sowie zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen) auf die Zeit von Juni bis Dezember 2011 beschränkt. Ihr diesen Zeitraum betreffendes, auf die Zahlung von 21,80 Euro höheren monatlichen Leistungen der Grundsicherung und folglich einen Gesamtbetrag von 152,60 Euro gerichtetes Begehren verfolgt die Klägerin zulässig mit ihrer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 56 SGG).

Zu Recht ist die Klage gegen den Beklagten gerichtet. Hieran ändert nichts, dass die Stadt Göttingen die...

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