Urteil Nr. B 9 SB 1/18 R des Bundessozialgericht, 2019-10-24

Judgment Date24 Octubre 2019
ECLIDE:BSG:2019:241019UB9SB118R0
Judgement NumberB 9 SB 1/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen Bl - Blindheit - Versorgungsmedizinische Grundsätze - Trennung nach Organ- und Funktionseinheiten - Funktionssystem des Sehens - Störung des visuellen Erkennens - keine Berücksichtigung von gnostischen Störungen - Unterschied zum Blindheitsbegriff für Landesblindengeld - verschiedene Zielrichtungen - Verfassungsrecht - Gleichheit - Einheit der Rechtsordnung - Zurückverweisung
Leitsätze

Der Nachteilsausgleich Blindheit ist beschränkt auf Störungen des Sehapparats und erfasst keine gnostischen - neuropsychologischen - Störungen des visuellen Erkennens.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. November 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs Blindheit bei der Klägerin, also die Zuerkennung des Merkzeichens Bl.

Die 2007 geborene Klägerin leidet seit ihrer Geburt an der Stoffwechselerkrankung Nichtketotische Hyperglycinämie (NKH) mit zentralnervöser-epileptogener Beteiligung. Bei ihr besteht seit jeher Pflegebedürftigkeit nach der Stufe III (jetzt Pflegegrad 5) bei einem anerkannten Grad der Behinderung (GdB) von 100 und der Feststellung der Merkzeichen H, B, G und aG. Der Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens Bl vom 10.10.2012 führte zur zusätzlichen Anerkennung des Merkzeichens RF, war im Übrigen aber erfolglos, weil sich aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen kein Anhalt für eine Blindheit nach der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (AnlVersMedV) ergebe. Visuelle Reize würden von der Klägerin, wenn auch verlangsamt, "wahrgenommen" im Sinne einer visuellen Agnosie (Störung des Erkennens). Nach den Vorgaben der AnlVersMedV liege bei gnostischen Störungen keine Blindheit vor (Bescheid vom 6.2.2013; Widerspruchsbescheid vom 25.9.2013).

Im Klageverfahren hat der augenärztliche Sachverständige Dr. S. in seinem Gutachten vom 23.11.2016 ausgeführt, bei der Erkrankung der Klägerin handele es sich weitgehend um eine gnostische Störung, da sie keinerlei Reaktion auf visuelle Reize zeige. Eine Erhebung der Sehschärfe und der Gesichtsfeldfunktion sei bei der Klägerin aufgrund der fehlenden Reaktion auf visuelle Reize und der fehlenden Kommunikationsfähigkeit nicht möglich. Eine Orientierungsfähigkeit der Klägerin sei nicht gegeben. Ob eine Rindenblindheit vorliege, könne nur mit bildgebender Diagnostik festgestellt werden. Dies sei aber entbehrlich, da die Voraussetzungen des Merkzeichens Bl auch bei einer gnostischen Störung erfüllt seien. Das SG hat den Beklagten daraufhin verurteilt, bei der Klägerin ab dem 10.10.2012 das Merkzeichen Bl festzustellen (Urteil vom 27.4.2017). Die Berufung des Beklagten ist erfolglos geblieben. Angesichts der neueren Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 11.8.2015 - B 9 BL 1/14 R) komme es für Blindheit bei cerebralen Schäden nicht mehr darauf an, dass eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliege. Zwar fehle der Klägerin das Augenlicht nicht vollständig, auch habe sich nicht beweisen lassen, dass ihre Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 1/50 betrage. Es lägen jedoch andere Störungen des Sehvermögens von einem vergleichbaren Schweregrad vor. Die Klägerin sei nicht zu einer differenzierten Sinneswahrnehmung im Stande. Aufgrund der Stoffwechselstörung und der täglichen Krampfanfälle sei davon auszugehen, dass das Gehirn visuelle Sinneseindrücke bisher gar nicht habe verarbeiten können. Hiermit stehe auch die Schilderung der gesetzlichen Vertreterin der Klägerin im Einklang, wonach diese kein Interesse an einer optischen Sinneswahrnehmung zeige. Bei diesen Befunden sei davon auszugehen, dass die Klägerin aufgrund ihrer Schwerstschädigung nie eine wirkliche Sehleistung erreicht habe (Urteil vom 22.11.2017).

Mit seiner Revision rügt der Beklagte einen Verstoß gegen Teil A Nr 6 Buchst c) AnlVersMedV. Eine Unfähigkeit zur Sinneswahrnehmung, welche aus einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen resultiere, dürfe danach nicht als Blindheit aufgefasst werden. Die neuere Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 11.8.2015 - B 9 BL 1/14 R) sei zum Bayerischen Landesblindengeld ergangen und gelte nur für diejenigen Fälle, in denen aufgrund hirnorganischer Beeinträchtigungen Beweisschwierigkeiten beständen, weil zB eine Mitwirkung des Patienten nicht möglich oder klärende Untersuchungen unzumutbar seien. Der Klägerin fehle das Augenlicht hingegen unstreitig nicht vollständig, es liege lediglich eine gnostische Störung vor. In der Rechtsordnung setze "Blindheit" dagegen überall und einheitlich zumindest auch eine den Sehapparat betreffende organische Störung voraus. Jedenfalls sei Teil A Nr 6 Buchst c) AnlVersMedV verbindlich für Leistungen nach den Landesblindengeldgesetzen und nicht etwa seien diese vorgreiflich für die Feststellung gesundheitlicher Merkmale als Voraussetzung der Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen.

Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. November 2017 sowie des Sozialgerichts Aurich vom 27. April 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Beklagten ist iS der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Ob die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der gesundheitlichen Merkmale für das Merkzeichen Bl hat, kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen.

1. Die Klägerin erstrebt mit ihrer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG; s zur insoweit statthaften Klageart Senatsurteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - juris RdNr 24 mwN) die Verpflichtung des beklagten Landes, unter Abänderung des Bescheids vom 6.2.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.9.2013 (§ 95 SGG) mit Wirkung ab dem 10.10.2012 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs Blindheit festzustellen (zum Unterschied von Merkzeichen und Nachteilsausgleich s Senatsurteil vom 16.2.2012 - B 9 SB 2/11 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 14 RdNr 14). Maßgeblich ist der Sach- und Streitstand im Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits durch die Tatsachengerichte, hier des LSG (22.11.2017), und für die Verpflichtungsklage die Rechtslage im Zeitpunkt der Revisionsentscheidung (vgl Senatsurteile vom 18.9.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 91, 205, 206 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2 S 7 = juris RdNr 13 und vom 7.11.2001 - B 9 SB 1/01 R - juris RdNr 33, jeweils mwN).

2. Der Senat kann nicht entscheiden, ob die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs Blindheit hat. Rechtsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs Blindheit sind § 152 Abs 1 und 4 SGB IX idF des Gesetzes vom 23.12.2016 (BGBl I 3234) und die hierzu ergangenen versorgungsmedizinischen Vorschriften (dazu a und b), die ausschließlich ophthalmologische Erkrankungen unter Ausschluss neurologischer Störungen erfassen (dazu c). Ein Verstoß gegen höherrangiges Recht folgt daraus nicht (dazu 3.). Die bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG lassen keine abschließende Entscheidung darüber zu, ob die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens Bl ab Antragstellung hat (dazu 4.).

a) Nach § 152 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGB IX (idF des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen - Bundesteilhabegesetz BTHG> vom 23.12.2016, BGBl I 3234; bis zum 31.12.2017 inhaltsgleich § 69 Abs 1 und 4 SGB IX idF des Gesetzes vom 23.4.2004, BGBl I 606) stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für behinderte Menschen sind (s zur Zuständigkeit des Landessozialamts in Niedersachsen § 152 Abs 1 Satz 1 und Satz 7 SGB IX iVm Nr I 1. und 4. Beschluss der Landesregierung vom 13.7.2004, Nds MBl Nr 36/2004). Zu diesen Merkmalen gehören diejenigen für den Nachteilsausgleich Blindheit nach Teil A der AnlVersMedV (idF vom 10.12.2008, BGBl I 2412; zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11.10.2012, BGBl I 2122), für die in dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen Bl einzutragen ist (§ 3 Abs 1 Nr 3 SchwbAwV idF vom 27.12.2003, BGBl I 3022 iVm § 153 Abs 2 SGB IX; bis zum 31.12.2017 § 70 Abs 2 SGB IX). Diese Feststellung zieht insbesondere die Gewährung von Blindengeld nach den Landesblindengeldgesetzen nach sich, hier also nach dem Niedersächsischen Blindengeldgesetz (vgl § 1 Abs 7 BlindGeldG Nds), wenn die Blindheit oder die Sehstörung durch einen Feststellungsbescheid nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX (bzw jetzt § 152 Abs 1 Satz 1 SGB IX) nachgewiesen ist.

Die Definition der gesundheitlichen Merkmale Blindheit und hochgradiger Sehbehinderung ergab sich zunächst aus dem in § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14.1.2015 geltenden Fassung (vom 20.6.2011, BGBl I 1114) in Bezug genommenen versorgungsrechtlichen Bewertungssystem, dessen Kern ursprünglich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) waren. Diese sind seit dem 1.1.2009 abgelöst durch die auf der Grundlage des § 30 Abs 16 (ursprünglich Abs 17) BVG erlassenen VersMedV vom 10.12.2008 (BGBl I 2412; zuletzt geändert durch Art 18 Gesetz vom 17.7.2017, BGBl I 2541). Zwischenzeitlichen Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers insbesondere zum...

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