Urteil Nr. B 9 SB 4/21 R des Bundessozialgericht, 2022-10-27

Judgment Date27 Octubre 2022
ECLIDE:BSG:2022:271022UB9SB421R0
Judgement NumberB 9 SB 4/21 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Oktober 2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grads der Behinderung (GdB) als 40 wegen Einschränkungen ihrer Sehfähigkeit.

Die 1997 geborene Klägerin erhielt während ihres Schulbesuchs wegen zunehmender Funktionsstörungen im Bereich des Sehens ua sonderpädagogische Förderung. Nach dem Realschulabschluss durchlief sie ab 2015 in einem Berufsförderungswerk eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Seit 2018 ist sie in diesem Beruf in Vollzeit tätig. Der Klägerin wurden mittlerweile ein Mobilitätstraining und Blindenstöcke verordnet.

Mit Bescheid vom 28.1.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.3.2013 stellte die Beklagte einen GdB von 30 fest. Dabei bewertete sie die Sehminderung und eine Lernstörung/Entwicklungsverzögerung jeweils mit einem Einzel-GdB von 20. Die hiergegen gerichtete Klage nahm die Klägerin nach medizinischer Beweisaufnahme auf augenärztlichem Fachgebiet zurück.

Am 16.9.2015 beantragte die Klägerin einen höheren GdB. Sie leide an einem Albinismus, einer Akkomodationsschwäche, einer hohen Einschränkung des funktionalen Sehens, einer hohen Blendempfindlichkeit und einem stark reduzierten Nah-/Fernvisus. Nach Auswertung eines augenärztlichen Befund- und Behandlungsberichts des Universitätsklinikums S vom 16.7.2015 hob die Beklagte den GdB mit Bescheid vom 17.11.2015 auf 40 an. Als Beeinträchtigungen legte sie ihrer Entscheidung nunmehr die Sehminderung mit einem Einzel-GdB von 40 und visuelle Wahrnehmungsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 zugrunde. Der dagegen erhobene Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2.5.2016).

Das SG hat ein Sachverständigengutachten des Augenarztes P vom 1.3.2017 eingeholt. Danach ließ sich das Ausmaß der Sehbeeinträchtigung (Sehschärfe, Gesichtsfeldausfälle, Blendempfindlichkeit) bei unauffälligem Befund nicht erklären. Es bestehe der Verdacht auf eine über Jahre verfestigte psychogene Störung. Nach den aktenkundigen Fernvisuswerten sei der GdB bis zum 3.9.2016 mit 40, bis zum 12.9.2016 mit 50 und anschließend mit 70 anzusetzen.

Das SG hat die Beklagte verurteilt, unter Änderung der angefochtenen Bescheide bei der Klägerin für die Zeit vom 3.9. bis zum 12.9.2016 einen GdB von 50 und danach von 70 festzustellen. Dieser GdB sei unter Zugrundelegung der bei ihr gemessenen Visuswerte nach Teil B Nr 4.3 der als Anlage 2 in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) enthaltenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) gerechtfertigt. Das fehlende morphologische Korrelat für die Sehstörung stehe dem nicht entgegen. Der GdB sei unabhängig von der Ursache nach den Auswirkungen der Funktionsstörungen in allen Lebensbereichen zu bestimmen (Urteil vom 24.10.2017).

Im Berufungsverfahren hat das LSG Sachverständigengutachten des Augenarztes W vom 22.11.2018, des Neurologen und Psychiaters B vom 4.2.2019 und des Diplompsychologen K vom 13.12.2018 eingeholt. Wie der bereits zuvor vor dem SG gehörte Sachverständigen P hat auch der Sachverständige W auf augenärztlichem Fachgebiet keine Befunde erhoben, die das Beschwerdebild erklären konnten. Das Verhalten der Klägerin sei mit den angegebenen Einschränkungen des Sehvermögens nur schwer bis überhaupt nicht in Einklang zu bringen. Der Sachverständige B hat unter Einbeziehung des Gutachtens von K keine Einschränkungen oder Beschwerden auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet festgestellt.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Den Sehstörungen der Klägerin sei mit einem GdB von 50 für die Zeit vom 3.9. bis zum 12.9.2016 und danach von 70 in entsprechender Anwendung der Vorschriften der VMG über das Funktionssystem "Sehorgan" Rechnung zu tragen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme weiche das Sehvermögen der Klägerin erheblich von dem für ihr Alter typischen ab. Durch dieses eingeschränkte Sehvermögen sei sie in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erkennbar beeinträchtigt. Zwar liefere das Verhalten der Klägerin in der Untersuchungssituation auch Anhaltspunkte für ein besseres Sehvermögen. Auch falle es schwer anzunehmen, dass blinde Menschen Turmspringen als Leistungssport wählen und betreiben könnten, wie es die Klägerin in der Schulzeit getan habe. Andererseits ziehe sich das Krankheitsbild konsistent und insofern widerspruchsfrei durch die Biografie der Klägerin. Die geltend gemachten Sehstörungen bestimmten ihren Alltag in allen Lebensbereichen und -abschnitten. Angesichts der weit über zehn Jahre gelebten weiteren Verschlechterung der Augenfunktion bestünden keine gewichtigen Zweifel, dass die Sehstörungen entweder organisch bestünden oder sie von der Klägerin so erlebt würden.

Dem stehe nicht entgegen, dass die bislang erhobenen Befunde kein morphologisches Korrelat für die von der Klägerin angegebenen Einschränkungen des Sehvermögens lieferten und anhand der bisher erhobenen Befunde keine Diagnose auf augenärztlichem Fachgebiet für die dargestellten Beschwerden gestellt werden könne. Beides sei für die Berücksichtigung der Sehstörungen und der durch sie bedingten Beeinträchtigung bei der Festsetzung des GdB entgegen der Ansicht der Beklagten nicht erforderlich. Für die Einordnung als Behinderung sei es ohne Bedeutung, welcher Diagnose die Beeinträchtigung zuzuordnen sei. Die VMG untersagten es nicht, Sehstörungen aus rechtlichen Gründen ohne entsprechendes organisches Korrelat zu berücksichtigen. Insbesondere Teil B Nr 4 VMG sei schon vom Wortlaut her kein Ausschlusskriterium, sondern nur ein Qualitätsmerkmal als Prüfposten für die sozialmedizinische Beurteilung. Nichts anderes ergebe sich aus der Rechtsprechung des BSG zum Begriff der Blindheit. Streitgegenstand und Argumentation lieferten im Fall der Klägerin keine Handhabe, nur Störungen des Sehapparats im organischen Sinn bei der Festsetzung des GdB zu berücksichtigen (Urteil vom 7.10.2020).

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte, das LSG habe seine Amtsermittlungspflicht verletzt, die Vorgaben der VMG sowie zum Vollbeweis und zur Beweislast missachtet. Eine sachgerechte Beurteilung des Gesundheitszustands der Klägerin sei unmöglich; zumindest könne nicht von einem höheren GdB als 40 ausgegangen werden. Dem Berufungsgericht hätte sich ein weiteres Sachverständigengutachten aufdrängen müssen, insbesondere um eine Aggravation oder Simulation sicher ausschließen zu können. Entgegen der Ansicht des LSG verlangten die VMG bei der Beurteilung von Sehstörungen zwingend ein morphologisches Korrelat. Wenn zudem das BSG in seiner Rechtsprechung zum Nachteilsausgleich "Blindheit" (Merkzeichen Bl) Störungen des Sehapparats im organischen Sinn voraussetze, müsse dies auch bei anderen schweren Einschränkungen dieses Funktionssystems gelten. Danach könnten die Beschwerden der Klägerin allenfalls dem Funktionssystem "Nervensystem u. Psyche" zugeordnet werden.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein Westfalen vom 7. Oktober 2020 und das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 24. Oktober 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angegriffene Urteil.

Der Senat hat eine Auskunft des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 2.8.2022 zu Teil B Nr 4 VMG eingeholt.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

A. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG mit der darin enthaltenen Bestätigung der vom SG ausgesprochenen Verpflichtung der Beklagten, bei der Klägerin für die Zeit vom 3.9. bis zum 12.9.2016 einen GdB von 50 und danach von 70 festzustellen.

B. Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LSG tragen nicht die Verurteilung der Beklagten zur Feststellung eines GdB der Klägerin von mehr als 40.

Da die Klägerin erfolgreich Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) auf Feststellung eines höheren GdB erhoben und die Beklagte dagegen Revision eingelegt hat, ist der Rechtsstreit nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz zu entscheiden (vgl stRspr; zB BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 SB 3/09 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 12 RdNr 24; BSG Urteil vom 12.4.2000 - B 9 SB 3/99 R - SozR 3-3870 § 3 Nr 9 S 22 = juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 9.12.2019 - B 9 SB 48/19 B - juris RdNr 8). Maßgeblich ist somit das SGB IX (in der ab dem 1.1.2018 geltenden Fassung des...

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