Urteil vom 02.02.2023 - BVerwG 3 C 14.21

JurisdictionGermany
Judgment Date02 Febrero 2023
Neutral CitationBVerwG 3 C 14.21
ECLIDE:BVerwG:2023:020223U3C14.21.0
Record Number020223U3C14.21.0
Registration Date03 Mayo 2023
Subject MatterRecht der Verkehrswirtschaft und des Verkehrsrechts sowie des Betriebs von Wasserstraßen
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesStVZO § 31a Abs. 1 Satz 1,VwGO § 113 Abs. 1 Satz 4

BVerwG 3 C 14.21

  • VG Saarlouis - 09.12.2020 - AZ: 5 K 736/20
  • OVG Saarlouis - 06.10.2021 - AZ: 1 A 8/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 2. Februar 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Sinner und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hellmann
für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 6. Oktober 2021 wird zurückgewiesen
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Gründe I

1 Der Kläger wendet sich gegen eine Fahrtenbuchanordnung und begehrt nach deren Erledigung die Feststellung, dass sie rechtswidrig war.

2 Am 10. Dezember 2018 wurde auf der Bundesautobahn A 8 mit einem mobilen Lasermessgerät des Typs VITRONIC PoliScan FM 1 gemessen, dass die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h mit dem auf den Kläger zugelassenen PKW um 41 km/h (nach Toleranzabzug) überschritten wurde.

3 Die Zentrale Bußgeldstelle des Polizeipräsidiums Rheinland-Pfalz (im Folgenden: Bußgeldstelle) übersandte dem Kläger einen Zeugenfragebogen mit der Bitte, die Personalien der verantwortlichen Person mitzuteilen; das Schreiben blieb unbeantwortet. Ebenfalls ohne Reaktion blieb das an die Ehefrau des Klägers übersandte Anhörungsschreiben, in dem der Vorwurf erhoben wurde, sie sei die Fahrerin gewesen. Nachdem auch weitere Ermittlungsbemühungen erfolglos geblieben waren, stellte die Bußgeldstelle das Ordnungswidrigkeitenverfahren ein und bat den Beklagten um Prüfung, ob das Führen eines Fahrtenbuchs angeordnet werden könne.

4 Mit Bescheid vom 11. Oktober 2019, dem Kläger zugestellt am 15. Oktober 2019, gab der Beklagte ihm unter Anordnung des Sofortvollzugs auf, für sein Fahrzeug für die Dauer von sechs Monaten ab Zustellung der Verfügung ein Fahrtenbuch zu führen, es zu benannten Daten zur Kontrolle vorzulegen und nach Ablauf dieser Zeit für weitere sechs Monate aufzubewahren. Für jeden Fall der Zuwiderhandlung drohte der Beklagte ein Zwangsgeld an. Für die Verfügung setzte er eine Verwaltungsgebühr in Höhe von 150 € und Auslagen in Höhe von 3,68 € fest.

5 Der Kläger legte Widerspruch ein und beantragte beim Verwaltungsgericht die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Bezug nehmend auf das Urteil des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs vom 5. Juli 2019 - Lv 7/17 - machte er geltend, die Verwertung der Messdaten sei unzulässig, da die zur Überprüfung der Messung notwendigen Rohmessdaten nicht gespeichert worden seien. Das Verwaltungsgericht wies den Eilantrag durch Beschluss vom 9. Januar 2020 zurück. Auf die Beschwerde des Klägers änderte das Oberverwaltungsgericht diese Entscheidung und stellte die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wieder her. In einem Hauptsacheverfahren sei zu klären, ob das verwendete Messgerät die nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zur nachträglichen Überprüfung eines Messergebnisses erforderlichen Rohmessdaten speichere. Am 28. April 2020 legte der Kläger dem Beklagten das Fahrtenbuch zur Kontrolle vor und erhielt es unbeanstandet mit der Aufforderung zurück, es für weitere sechs Monate aufzubewahren.

6 Nach erfolglosem Widerspruch hat der Kläger am 28. Juli 2020 Klage mit dem Antrag erhoben, die Rechtswidrigkeit der Anordnung festzustellen, für sechs Monate ab Bescheidzustellung ein Fahrtenbuch zu führen. Das Verwaltungsgericht des Saarlandes hat die Klage abgewiesen. Es bestünden erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage; jedenfalls sei sie unbegründet. Es könne gesichert davon ausgegangen werden, dass das verwendete Messgerät die vom Verfassungsgerichtshof des Saarlandes für erforderlich angesehenen Rohmessdaten zuverlässig speichere und eine nachträgliche Überprüfung ermögliche. Dass der Kläger diese Daten im Verwaltungsverfahren nicht angefordert habe, gehe mit ihm heim. Die zu einem Bußgeldverfahren ergangene Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs sei nicht einschlägig. Für den Erlass einer Fahrtenbuchanordnung genüge, dass der Verkehrsverstoß mit hinreichender Sicherheit feststehe. Der Amtsermittlungsgrundsatz verpflichte die Behörde nicht, das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung "ins Blaue hinein" zu hinterfragen. Ermittlungen seien erst geboten, wenn der Fahrzeughalter Unstimmigkeiten der Messung aufzeige oder sie sich der Behörde aufdrängen müssten. Dazu müsse er substanziierte Angaben machen. Das sei hier mit dem pauschalen Verweis auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht geschehen.

7 Das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 31a Abs. 1 StVZO hätten vorgelegen. Bei der mit zwei Punkten und einem Fahrverbot von einem Monat bewehrten Geschwindigkeitsüberschreitung handele es sich um eine schwerwiegende Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften im Sinne dieser Vorschrift. Bei einer Fahrtenbuchanordnung gelte wie im Bußgeldverfahren, dass die Ergebnisse standardisierter Messverfahren zugrunde gelegt werden könnten, solange keine substanziierten Einwände gegen ihre Richtigkeit erhoben würden. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 5. Juli 2019 - Lv 7/17 - verlange das Gebot eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens in Bußgeldverfahren, dem Betroffenen auf Anfrage Zugang zu den Informationen zu gewähren, die er zur Verteidigung gegen den Vorwurf benötige, eine Ordnungswidrigkeit begangen zu haben. Komme die Bußgeldbehörde dieser Verpflichtung nicht nach, sei es, weil sie dem Einsichtsersuchen nicht Folge leiste und vorhandene digitale Dateien nicht vollständig zu Verfügung stelle, sei es, weil das Messgerät keine Rohmessdaten aufgezeichnet oder gespeichert habe, könnten gerichtliche Entscheidungen keinen Bestand haben, die auf dieser Messung beruhten. Für eine Fahrtenbuchanordnung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung gelte das ebenso. Doch treffe die Behauptung des Klägers, das Messgerät habe die zur Überprüfung notwendigen Rohmessdaten nicht gespeichert, nicht zu; das habe die Sachaufklärung im Berufungsverfahren ergeben. Ebenso wenig dringe der Kläger mit dem Vortrag durch, diese Daten seien ihm auf Anfrage nicht vollständig zur Verfügung gestellt worden, weil die Bußgeldstelle ihm auf seinen Antrag vom 1. Juli 2021 nicht auch die Rohmessdaten der gesamten Messreihe übermittelt habe. Der Beklagte habe zu dem für die Überprüfung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung von der Richtigkeit und Verwertbarkeit des Messergebnisses ausgehen dürfen. Der Bundesgerichtshof habe entschieden, dass die Ergebnisse standardisierter Messverfahren zugrunde gelegt werden dürften, solange keine substanziierten Einwände gegen ihre Richtigkeit erhoben würden. Der Kläger habe den Datenzugang erst beantragt, als die ihm gegenüber ergangene Anordnung bereits in der Hauptsache erledigt gewesen sei. Nach dem Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 - sei die Möglichkeit, die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses unter Berufung auf über die Rohmessdaten erlangte Informationen geltend zu machen, zeitlich begrenzt. Der Betroffene könne sich nur dann erfolgreich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen verteidigen, wenn er ihn rechtzeitig im Bußgeldverfahren beantragt habe. Das sei auf das gefahrenabwehrrechtlich ausgerichtete Fahrtenbuchverfahren zu übertragen. Nach dem einschlägigen Fach- und Verfahrensrecht sei dort der Antrag auf Zugang zu weiteren Informationen nur dann rechtzeitig erfolgt, wenn er zu einem Zeitpunkt gestellt worden sei, zu dem die Verfügung, deren Rechtmäßigkeit damit in Zweifel gezogen werden solle, noch rechtswirksam gewesen sei. Habe sich die Fahrtenbuchanordnung bereits in der Hauptsache erledigt und sei der entscheidungserhebliche Zeitpunkt damit verstrichen, könne der Betroffene ihre Rechtmäßigkeit nicht mehr dadurch in Frage stellen, dass er das Messergebnisses durch einen Sachverständigen überprüfen lassen wolle.

8 Zur Begründung seiner Revision, die das Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen hat, macht der Kläger geltend: Das Oberverwaltungsgericht sei unzutreffend von der entsprechenden Anwendbarkeit von § 77 Abs. 2 OWiG im verwaltungsrechtlichen Verfahren ausgegangen. Des Weiteren habe es zu Unrecht angenommen, er habe den Antrag auf Zugang zu den Rohmessdaten nicht rechtzeitig gestellt. Er habe aufgrund einer sachverständigen Mitteilung davon ausgehen können, dass keine Rohmessdaten gespeichert worden seien. Als sich diese Annahme als unrichtig herausgestellt habe, habe er deren Übermittlung beantragt. Die Behörde habe ihm jedoch nur die Messdaten zu dem Vorfall mit seinem PKW, nicht aber auch die Messdaten der gesamten Messreihe sowie weitere angeforderte Daten zur Verfügung gestellt. Die nur teilweise übermittelten Daten ermöglichten keine vollständige Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung. Dass das Oberverwaltungsgericht die Messung dennoch verwertet habe, verletze ihn in seinen Grund- und Verfahrensrechten.

9 Der Beklagte tritt der Revision entgegen.

II

10 Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat ohne Bundesrechtsverstoß angenommen, dass der Kläger das gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO, hier in entsprechender Anwendung, erforderliche...

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