Urteil vom 04.10.2012 - BVerwG 1 C 13.11

Judgment Date04 Octubre 2012
Neutral CitationBVerwG 1 C 13.11
ECLIDE:BVerwG:2012:041012U1C13.11.0
CitationBVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11
Registration Date15 Mayo 2013
Record Number041012U1C13.11.0
Applied RulesRichtlinie 2003/109/EG Art. 12,ZPO § 412,ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1,GG Art. 2 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1,AufenthG § 11 Abs. 1, § 50 Abs. 1, § 51 Abs. 1, § 55 Abs. 1,,§ 56 Abs. 1, § 84 Abs. 2,VwGO §§ 98, 108 Abs. 2, § 113 Abs. 1,EMRK Art. 8,AuslG 1990 § 72
CourtDas Bundesverwaltungsgericht

BVerwG 1 C 13.11

  • VG Stuttgart - 17.12.2010 - AZ: VG 11 K 3296/09
  • VGH Baden-Württemberg - 09.08.2011 - AZ: VGH 11 S 245/11

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. Oktober 2012
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
Prof. Dr. Kraft, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Maidowski und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 9. August 2011 aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe I

1 Der Kläger, ein im Jahre 1966 geborener türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine unbefristete Ausweisung.

2 Der Kläger kam nach Heirat einer türkischen Staatsangehörigen 1991 im Wege des Ehegattennachzugs nach Deutschland. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, eine 1993 geborene Tochter und ein 2002 geborener Sohn. 1996 erhielt der Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die 2007 als Niederlassungserlaubnis in seinen Reisepass übertragen wurde.

3 2003 verlor der Kläger durch Konkurs des Arbeitgebers nach zwölf Jahren ununterbrochener Beschäftigung als Lagerarbeiter und Maschinenführer seinen Arbeitsplatz. Danach gelang es ihm nicht, erneut eine dauerhafte Beschäftigung zu finden. Im Mai 2003 wurde die Ehe geschieden. Nach einer Versöhnung lebte der Kläger vorübergehend wieder mit seiner Familie zusammen. Im Mai 2008 kam es zur endgültigen Trennung.

4 Dies führte beim Kläger zu psychischen Problemen. Er steigerte sich in die Vorstellung hinein, seine geschiedene Frau sei für sein Schicksal verantwortlich, kümmere sich nicht um die gemeinsamen Kinder und versuche, den Kontakt mit diesen zu verhindern. Diese Negativentwicklung gipfelte darin, dass er am 14. Dezember 2008 gegen 23.30 Uhr in die frühere Familienwohnung eindrang. Dabei führte er eine Rolle Klebeband, zwei Messer und einen Brief mit sich, in dem er ankündigte, sich und seine Kinder zu töten. In der Wohnung traf er auf seine Frau, schlug ihr mehrfach heftig ins Gesicht und drohte ihr mit der Tötung der Kinder. Durch das Eingreifen einer Freundin der Frau gelang es, die Situation bis zum Eintreffen der Polizei zu entspannen. Bei seiner Festnahme drohte der Kläger, seine frühere Ehefrau umzubringen. Er wurde in Untersuchungshaft genommen und mit Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 23. März 2009 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung, Nötigung und Hausfriedensbruch zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die wegen der Gefahr neuer Straftaten zum Nachteil der Familie nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.

5 Mit Bescheid vom 27. Juli 2009 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Kläger aus und drohte ihm die Abschiebung unmittelbar aus der Haft heraus in die Türkei an. Zur Begründung wurde ausgeführt, vom Kläger gehe eine massive Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus. Seine unbefristete Ausweisung sei daher auch bei einer zu seinen Gunsten unterstellten Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 gerechtfertigt. Hiergegen erhob der Kläger Klage. Während des Klageverfahrens wurde die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe vom Landgericht Stuttgart im Dezember 2009 zur Bewährung ausgesetzt und der Kläger aus der Haft entlassen. Daraufhin setzte das Regierungspräsidium dem Kläger mit Bescheid vom 16. Dezember 2009 eine Ausreisefrist bis 17. Januar 2010. Diese Änderung wurde im Wege der Klageerweiterung in das Klageverfahren einbezogen.

6 Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Urteil vom 17. Dezember 2010 stattgegeben und die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat nach Ablehnung eines Antrags des Beklagten auf Einholung eines fachpsychiatrischen Gutachtens dessen Berufung mit Urteil vom 9. August 2011 zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Der Kläger besitze jedenfalls nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 eine assoziationsrechtliche Rechtsstellung. Er dürfe daher nach § 55 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1 /80 nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Dabei gelte entgegen der Annahme des Bundesverwaltungsgerichts nicht ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Maßgeblich sei allein der jeweilige Einzelfall, der eine umfassende Würdigung aller wesentlichen Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordere. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe gehe vom Kläger gegenwärtig keine Wiederholungsgefahr aus. Der Einholung eines Gutachtens habe es nicht bedurft. Es lägen keine besonderen tat- oder persönlichkeitsbezogenen Umstände vor, aufgrund derer die Gefahrenprognose nicht ohne spezielle Sachkunde getroffen werden könne. Mehr als anderthalb Jahre nach der Strafaussetzung zur Bewährung und unter Berücksichtigung des zwischenzeitlichen Verhaltens des Klägers sowie der recht spezifischen Umstände, die im Dezember 2008 zur Straftat geführt hätten, bestünden keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger erneut vergleichbare Straftaten insbesondere zum Nachteil seiner geschiedenen Ehefrau oder seiner Kinder begehen werde. Die vom Beklagten (hilfsweise) begehrte Aufhebung der Ausweisung mit Wirkung ex nunc - primär um ein Wiederaufleben der Niederlassungserlaubnis des Klägers zu verhindern - komme nicht in Betracht. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO lasse sowohl eine Aufhebung ex tunc als auch ex nunc zu. Auch § 84 Abs. 2 AufenthG sei zu dieser Frage keine klare Entscheidung zu entnehmen. Gegen eine zeitliche begrenzte Aufhebung der Ausweisungsverfügung sprächen vor allem die europa- und verfassungsrechtlichen Vorgaben, die für die Zeitpunktverschiebung im Ausweisungsrecht maßgebend gewesen seien, aber auch pragmatische Gründe, da das Gericht den genauen Stichtag - etwa des Wegfalls der Wiederholungsgefahr - regelmäßig nur schwer ermitteln könne. Möglich dürfte allein die Feststellung sein, dass die Ausweisung zu einem bestimmten Zeitpunkt rechtswidrig oder rechtmäßig gewesen sei. Insoweit könne der Ausländerbehörde eventuell mittels eines Feststellungsausspruchs analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO geholfen werden, der ggf. auch im Wege der Widerklage oder Anschlussberufung durchsetzbar sei. Einen solchen Antrag habe der Beklagte nicht gestellt. Da der Aufenthalt nicht beendet worden sei, fehle es auch an einem besonderen Feststellungsinteresse.

7 Der Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör wegen der Ablehnung seines Beweisantrags. Außerdem ist er der Auffassung, dass eine Ausweisung nach Wegfall der Wiederholungsgefahr im gerichtlichen Verfahren nur mit Wirkung ex nunc aufgehoben werden dürfe.

8 Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung, hilfsweise begehrt er eine Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung...

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