Urteil vom 07.01.2016 - BVerwG 1 A 3.15

JurisdictionGermany
Judgment Date07 Enero 2016
Neutral CitationBVerwG 1 A 3.15
ECLIDE:BVerwG:2016:070116U1A3.15.0
CitationBVerwG, Urteil vom 07.01.2016 - 1 A 3.15
Registration Date16 Febrero 2016
Applied RulesEMRK Art. 6 Abs. 2,VwVfG §§ 28, 39,ZPO §§ 384, 446, 451, 453,VereinsG §§ 2, 3, 8, 9, 10, 11, 12,VwGO § 42 Abs. 2, § 43 Abs. 1, § 61 Nr. 2, §§ 98, 108 Abs. 1,GG Art. 9 Abs. 2
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Record Number070116U1A3.15.0

BVerwG 1 A 3.15

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 5. bis 7. Januar 2016
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph
am 7. Januar 2016 für Recht erkannt:

  1. Die Klagen werden abgewiesen.
  2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens zu je 1/5.
Gründe I

1 Die Kläger wenden sich gegen ein vom Bundesministerium des Innern erlassenes Vereinsverbot.

2 Die Kläger gehören der Rockergruppierung "Gremium MC Germany" an. Dessen Zweck besteht nach seiner Satzung in der kameradschaftlichen Pflege und Förderung des Motorradsports. Bei den Klägern zu 2 bis 5 handelt es sich um vier Ortsgruppen ("Chapter") mit Sitz und Tätigkeitsfeld in Sachsen (Kläger zu 2 bis 4) und Brandenburg (Kläger zu 5). Der Kläger zu 1 ist nach Auffassung der Beklagten ein diesen Chaptern übergeordneter Regionalverband.

3 Das Bundesministerium des Innern stellte ohne vorherige Anhörung der Kläger mit Verfügung vom 28. Mai 2013 fest, dass der Zweck und die Tätigkeit des Klägers zu 1 einschließlich seiner Teilorganisationen - der Kläger zu 2 bis 5 und des Klägers im Verfahren BVerwG 1 A 2.15 ("Härte Plauen") - den Strafgesetzen zuwiderlaufen (Ziffer 1). Der Kläger zu 1 einschließlich seiner Unterorganisationen wurde verboten und aufgelöst (Ziffer 2). Ferner wurde jede Tätigkeit, die Bildung von Ersatzorganisationen, die Fortführung bestehender Organisationen als Ersatzorganisationen und die Verwendung von Kennzeichen untersagt (Ziffer 3). Das Vermögen der verbotenen Organisationen sowie näher bezeichnete Forderungen und Sachen Dritter wurden beschlagnahmt und eingezogen (Ziffer 4 bis 6).

4 Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger zu 1 sei ein Verein, der als gebietliche Teilorganisationen vier Ortsgruppen, nämlich den Kläger zu 2 als sogenanntes "Führungschapter" und die Kläger zu 3 bis 5 als weitere "Mitgliedschapter", sowie eine dem Kläger zu 5 zugeordnete "Supportergruppierung" ("Härte Plauen") umfasse. Die strafgesetzwidrige Prägung des Vereins und seiner Teilorganisationen ergebe sich daraus, dass sein Hauptzweck nicht in der kameradschaftlichen Pflege des Motorradsports liege, sondern in der gewalttätigen Gebiets- und Machtentfaltung und in der strafrechtswidrigen Selbstbehauptung gegenüber konkurrierenden Organisationen. Hierzu griffen der Verein und seine Teilorganisationen in krimineller Weise auf Mittel wie die Demonstration von Gruppenstärke durch massiertes öffentliches Auftreten, Vergeltungsaktionen gegenüber konkurrierenden Rockergruppierungen und abtrünnigen Mitgliedern und die Verdeutlichung von Macht- und Gebietsansprüchen unter Begehung insbesondere von Körperverletzungs- und Nötigungsdelikten zurück. Straftaten würden von den Entscheidungsträgern geduldet, gebilligt, gefördert oder angewiesen. Obwohl sie aufgrund des hierarchischen Aufbaus einen intensiven disziplinarischen Zugriff auf die Mitglieder hätten, nutzten sie diesen nicht zur Vermeidung oder Ahndung von vereinsbezogenen Straftaten. Stattdessen demonstriere die Führungsebene des Regionalverbandes und seiner Chapter ihre Anerkennung für begangene Straftaten durch Beförderungen und die Verleihung von "Patches". Die Kläger bereiteten ihre Mitglieder logistisch auf die Begehung von Straftaten vor und unterstützten straffällige Mitglieder. Austrittswünschen werde in der Regel nicht entsprochen. Eine Aussage bei der Polizei könne Grund für ein Ausscheiden im "Bad Standing" sein. Die Gefährlichkeit der Kläger ergebe sich auch aus mehreren, ihnen zuzurechnenden Straftaten ihrer Mitglieder, insbesondere aus einem gemeinschaftlich von Führungspersonen und Mitgliedern begangenen versuchten Tötungsdelikt zum Nachteil eines unbeteiligten Jugendlichen am 31. Dezember 2011 in Königs Wusterhausen, das von der Führungsebene als gewalttätiger Racheakt gegenüber dem rivalisierenden "Hells Angels MC" nach einem versuchten Tötungsdelikt zum Nachteil eines Mitglieds des Klägers zu 5 geplant, veranlasst und durchgeführt sowie im Nachhinein gebilligt und geduldet worden sei.

5 Die Kläger haben gegen die Verbotsverfügung Klage erhoben und machen im Wesentlichen geltend: Die Voraussetzungen für ein Handeln des Bundesministeriums des Innern lägen nicht vor. Es gebe beim Gremium MC keine Regionalverbände, damit existiere auch nicht der vom Beklagten angenommene Regionalverband Sachsen. Organisation und Tätigkeit der Kläger zu 2 bis 5 seien jeweils auf ein Bundesland beschränkt. Zwischen den Chaptern einer Region bestehe lediglich eine lockere Verbindung. Regionalversammlung und -sprecher dienten dem Informationsfluss zwischen der örtlichen Chapter-Führung und dem 7er-Rat ohne Steuerungs- und Weisungsbefugnis, feste Struktur und konkrete Aufgabenverteilung. Auch materiell lägen keine Gründe vor, die ein Verbot der Vereinigungen - so sie existierten - rechtfertigten. Zweck und Tätigkeit der verbotenen Chapter seien nicht auf die Begehung von Straftaten gerichtet. Das Strafverfahren wegen des versuchten Tötungsdelikts vom 31. Dezember 2011 sei nicht rechtskräftig abgeschlossen. Außerdem handele es sich hierbei um eine Einzelaktion des seinerzeitigen Security Chiefs des Klägers zu 4. Nach den Ermittlungsakten habe man ohne Mitführung von Waffen Präsenz zeigen wollen. Die begangene Straftat sei der Vereinsführung weder vorher bekannt gewesen noch sei sie von ihr angeordnet, gebilligt oder geduldet worden. Die Tat beruhe auch nicht auf der Absprache einer gewalttätigen Racheaktion, insbesondere habe am 28. Dezember 2011 in Dresden keine Besprechung unter Beteiligung des Regionalsprechers stattgefunden. Die Präsidenten und Stellvertreter der Kläger zu 2 und 3 seien bei der Aktion in Königs Wusterhausen nicht zugegen gewesen. Die Aktion sei weder von ihnen noch vom 7er-Rat nachträglich gutgeheißen, gebilligt oder honoriert worden. Alle anderen abgeschlossenen Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Vereinsmitglieder seien aus tatsächlichen Gründen eingestellt worden oder hätten keinen Bezug zum Gremium MC. Das vom Beklagten angenommene Belohnungssystem gebe es nicht. Soweit Marcus F. nachträglich Präsident des Klägers zu 4 geworden sei, handele es sich um eine chapterinterne Entscheidung, an der der Regionalsprecher nicht beteiligt gewesen sei. Markus W. sei nach der Tat kein "No mercy-Patch" verliehen worden. Zur Verwendung dieses Patches gebe es beim Gremium MC keine allgemeine Praxis. Es werde nicht verliehen; seine Verwendung sei jedem Mitglied freigestellt. Der Regionalsprecher sei weder an seiner Bestellung oder Vergabe beteiligt gewesen noch habe er davon gewusst. Es sei im Handel frei erhältlich und habe nicht die ihm zugeschriebene Bedeutung. Die Praxis des "Bad Standing" bedeute lediglich, dass das so ausgeschiedene Mitglied kein Recht und keine Möglichkeit der Wiederaufnahme habe und Mitglieder mit ihm keinen Kontakt mehr pflegen dürften. Ein Ausscheiden auf eigenen Wunsch sei selbstverständlich möglich. Die einzelnen Chapter suchten und pflegten den Kontakt mit der Polizei. Es gebe keine allgemeine Richtlinie, nicht mit der Polizei zu sprechen. Die Mitglieder wüssten aber, dass sie nicht verpflichtet seien, sich als Beschuldigte zu äußern, und sie auch als Zeugen gegenüber der Polizei keine Aussage machen müssten. Bei der Hilfe für angeklagte und inhaftierte Mitglieder handle es sich um Akte der Freundschaft und Solidarität. Bis zu einem rechtskräftigen Urteil gelte die Unschuldsvermutung und das Verbot der Verpflichtung zur Selbstbezichtigung.

6 Die Kläger beantragen, festzustellen, dass die Verfügung des Bundesministeriums des Innern vom 28. Mai 2013 nichtig ist, soweit sie sich jeweils gegen sie richtet, hilfsweise die Verfügung insoweit aufzuheben.

7 Die Beklagte beantragt, die Klagen abzuweisen.

8 Sie verteidigt die angegriffene Verfügung unter Verweis auf die in den Verwaltungsvorgängen enthaltenen und weitere im Gerichtsverfahren in Bezug genommene Unterlagen.

9 Durch (nicht rechtskräftiges) Urteil vom 30. Januar 2015 - 21 Ks 2/13 - hat das Landgericht Cottbus vier - den Klägern zu 4 und 5 angehörende - Mitglieder wegen ihrer Taten am 31. Dezember 2011 in Königs Wusterhausen u.a. wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt.

10 Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung die Präsidenten der Kläger zu 2 bis 4 und im mitverhandelten Parallelverfahren BVerwG 1 A 2.15 ein Mitglied der Supporterorganisation "Härte Plauen" zur Ergänzung des jeweiligen Parteivorbringens informatorisch angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung mehrerer Zeugen, die dem Gremium MC weiterhin angehören oder früher angehörten.

11 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Streitakte, die von der Beklagten vorgelegten Unterlagen sowie die vom Senat beigezogenen Strafakten. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

II

12 Die Klagen sind zulässig, aber unbegründet. Die angegriffene Verfügung ist - soweit sie die Kläger betrifft - rechtmäßig und verletzt diese nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Damit haben weder die mit den Hauptanträgen verfolgten Nichtigkeitsfeststellungsbegehren noch die hilfsweise erhobenen Anfechtungsklagen Erfolg.

13 I. Die Klagen sind zulässig, insbesondere fehlt es nicht an einer eigenen Rechtsbetroffenheit (1.). Die Kläger sind...

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