Urteil vom 07.07.2022 - BVerwG 9 A 1.21

JurisdictionGermany
Judgment Date07 Julio 2022
Neutral CitationBVerwG 9 A 1.21
ECLIDE:BVerwG:2022:070722U9A1.21.0
Record Number070722U9A1.21.0
Registration Date28 Noviembre 2022
Subject MatterStraßen- und Wegerecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesBNatSchG § 1 Abs. 3 Nr. 4, § 13 Satz 2, §§ 34, 44 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 3, Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 und 3,FFH-RL Art. 6 Abs. 2 und 3, Art. 12 Abs. 1 Buchst. a,FStrAbG § 1 Abs. 2 Satz 2,GG Art. 19 Abs. 4, Art. 20a,UmwRG § 6,UVPG a. F. § 6 Abs. 1, § 9 Abs. 1 Satz 4, Abs. 1a Nr. 5, Abs. 1b,VwGO § 67 Abs. 4, § 87b, § 104 Abs. 3 Satz 2,VwVfG § 73 Abs. 4,UVPG § 74 Abs. 2 Nr. 2,KSG § 13 Abs. 1 Satz 1,FStrG § 17 Abs. 1 Satz 4

BVerwG 9 A 1.21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 31. Mai 2022
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler, Dr. Martini und
Dr. Dieterich sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Sieveking
am 7. Juli 2022 für Recht erkannt:

  1. Der Planfeststellungsbeschluss des Beklagten vom 16. April 2018 für den Neubau der A 20 von Westerstede bis Drochtersen, Abschnitt 1 von der A 28 bei Westerstede bis zur A 29 bei Jaderberg, in der Fassung des 1. Änderungsbeschlusses vom 14. September 2018 und des Planfeststellungsänderungs- und -ergänzungsbeschlusses vom 3. Februar 2021 ist rechtswidrig und nicht vollziehbar
  2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen
  3. Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten des Klägers je zur Hälfte; ihre außergerichtlichen Kosten tragen der Beklagte und die Beigeladene selbst
Gründe I

1 Der Kläger, ein anerkannter Verein nach § 3 UmwRG, wendet sich gegen den Planfeststellungsbeschluss des Beklagten vom 16. April 2018 für den Neubau des ersten Abschnitts der A 20 von der A 28 bei Westerstede bis zur A 29 bei Jaderberg in der Fassung des 1. Änderungsbeschlusses vom 14. September 2018 sowie des Planfeststellungsänderungs- und -ergänzungsbeschlusses vom 3. Februar 2021.

2 Das planfestgestellte Vorhaben ist Teil der in insgesamt sieben Abschnitte gegliederten sogenannten "Küstenautobahn" A 20, die im Westen bei Westerstede an die A 28 anbindet und im Osten an den achten Abschnitt des dort als "Nord-West-Umfahrung Hamburg" bezeichneten weiteren Verlaufs der A 20 anknüpft. Die A 20 ist im Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen zum Fernstraßenausbaugesetz in der Fassung vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3354) dem vordringlichen Bedarf zugeordnet und gemäß der Verordnung Nr. 1315/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes - TEN-V - Bestandteil des TEN-Gesamtnetzes. Die planfestgestellte 13 km lange Strecke beginnt an der vorhandenen Autobahn A 28 Leer - Oldenburg und endet östlich des geplanten Autobahnkreuzes mit der A 29. Die Trasse verläuft zunächst auf etwa 2 km durch ein Waldstück ("Garnholter Büsche") und sodann durch eine offene Felder- und Wiesenlandschaft. West-nordwestlich des geplanten Autobahndreiecks mit der A 28 grenzt das FFH-Gebiet "Garnholt" an die Trasse und an eine Rastanlage der A 28. Nördlich des planfestgestellten Abschnitts befindet sich der ehemalige Standortübungsplatz Friedrichsfeld, auf dem Ausgleichsmaßnahmen für das Vorhaben durchgeführt werden sollen.

3 Die Vorhabenträgerin beantragte im Dezember 2014 die Planfeststellung. Nach Auslegung der Unterlagen ergänzte sie diese u. a. um einen wasserrahmenrechtlichen Fachbeitrag und nahm einzelne Änderungen vor. Nach einer erneuten Auslegung der Planunterlagen und deren Erörterung erließ der Beklagte am 16. April 2018 den angefochtenen Planfeststellungsbeschluss. Dieser sieht u. a. vor, auf dem Gelände des Standortübungsplatzes Friedrichsfeld einen Lebensraum für Wiesenbrüter zu schaffen, indem Teile eines (Sumpf-)Waldes beseitigt und dort an anderer Stelle wieder aufgeforstet werden. Darüber hinaus wird an der A 28 in Höhe des FFH-Gebiets der Rastplatz zurückgebaut und auf der Richtungsfahrbahn Oldenburg aus Gründen der Verkehrssicherheit eine Begrenzung der Geschwindigkeit auf 120 km/h ab der Verkehrsfreigabe des planfestgestellten Abschnitts angeordnet.

4 Mit seiner am 15. Juni 2018 erhobenen Klage rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er macht u. a. geltend, die Erhaltungsziele des FFH-Gebiets würden durch zu hohe Stickstoffeinträge beeinträchtigt. Das vorgesehene Umsetzen von Fledermäusen und Amphibien verstoße gegen das artenschutzrechtliche Fangverbot. Die auf dem Standortübungsplatz auf hochwertigen, nicht mehr aufwertungsfähigen Flächen vorgesehenen Kompensationsmaßnahmen seien unzulässig und fachlich nicht geeignet; die damit verbundenen Eingriffe würden zudem ihrerseits nicht hinreichend ausgeglichen. Für den planfestgestellten Abschnitt bestehe kein Verkehrsbedarf. Auswirkungen auf den Klimawandel seien nicht berücksichtigt worden. In wasserrechtlicher Hinsicht seien u. a. die Verfahren zur Regenwasserbehandlung nicht hinreichend bestimmt geregelt.

5 Auf Antrag des Beklagten hat der Senat das Verfahren mit Beschluss vom 24. Juli 2019 (Az. BVerwG 9 A 8.18 ) zur Durchführung eines ergänzenden Verwaltungsverfahrens ausgesetzt, mit dem der Beklagte einen von ihm erkannten Verfahrensfehler bezüglich der Straßenentwässerung beheben wollte. Der darauf ergangene Planfeststellungsänderungs- und -ergänzungsbeschluss vom 3. Februar 2021 regelt neben dem Einbau von Retentionsbodenfilteranlagen u. a. eine spätere Entsiegelung von Flächen auf dem Standortübungsplatz. Auf der Grundlage einer aktualisierten Stickstoffdepositionsberechnung, der zufolge das Abschneidekriterium von 0,3 kg/ha/a weiterhin nicht überschritten wird, und der entsprechend angepassten Verträglichkeitsprüfung wird darüber hinaus die Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Richtungsfahrbahn Oldenburg ab der Verkehrsfreigabe des planfestgestellten Abschnitts auch aus habitatschutzrechtlichen Gründen angeordnet und die Höchstgeschwindigkeit auf beiden Richtungsfahrbahnen ab der Verkehrsfreigabe des gesamten weiteren Verlaufs der A 20 bis Bad Segeberg aus Gründen der Verkehrssicherheit auf 120 km/h beschränkt.

6 Der Kläger hat in seiner ergänzenden Klagebegründung sein Vorbringen u. a. bzgl. der Berechnung der Stickstoffbelastung sowie der Berücksichtigung des globalen Klimas vertieft und erweitert.

7 Der Kläger beantragt,
den Planfeststellungsbeschluss des Beklagten vom 16. April 2018 für den Neubau der A 20 von Westerstede bis Drochtersen, Abschnitt 1 von der A 28 bei Westerstede bis zur A 29 bei Jaderberg, in der Fassung des 1. Änderungsbeschlusses vom 14. September 2018 und des Planfeststellungsänderungs- und -ergänzungsbeschlusses vom 3. Februar 2021 und die wasserrechtliche Erlaubnis aufzuheben, hilfsweise für rechtswidrig und nicht vollziehbar zu erklären.

8 Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Klage abzuweisen.

9 Sie verteidigen den Planfeststellungsbeschluss und treten dem Vorbringen des Klägers im Einzelnen entgegen.

II

10 Die Klage ist teilweise begründet. Das Vorbringen des Klägers führt, soweit es innerhalb der Klagebegründungsfrist erhoben wurde (A.), auf keine formelle (B.), jedoch auf eine teilweise materielle Rechtswidrigkeit (C.) des angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses.

11 A. Der gerichtlichen Überprüfung sind (nur) diejenigen Einwände zugrunde zu legen, die unter Beachtung der Frist des § 6 UmwRG i. d. F. der Bekanntmachung vom 23. August 2017 (BGBl. I S. 3290) substantiiert vorgebracht wurden (zur im Zeitpunkt der Klageerhebung vorrangigen Anwendbarkeit des § 6 UmwRG gegenüber fachgesetzlichen Klagebegründungsfristen vgl. BVerwG, Urteil vom 27. November 2018 - 9 A 8.17 - BVerwGE 163, 380 Rn. 14).

12 I. Gemäß § 6 UmwRG i. V. m. § 67 Abs. 4 VwGO hat der Kläger innerhalb der Begründungsfrist fundiert die zur Begründung der Klage dienenden Tatsachen zu benennen und den Prozessstoff dergestalt substantiiert darzulegen, dass für das Gericht und die übrigen Beteiligten klar und unverwechselbar feststeht, unter welchen tatsächlichen Gesichtspunkten eine behördliche Entscheidung angegriffen wird. Beweismittel für einen späteren förmlichen Beweisantrag sind innerhalb der Klagebegründungsfrist bereits anzugeben. Damit einher geht die Pflicht des Klägerbevollmächtigten zur Sichtung und rechtlichen Einordnung der Tatsachen, auf welche die Klage gestützt werden soll. Eine nur stichwortartige Benennung oder Zusammenfassung von Kritikpunkten beigefügter Gutachten oder deren bloße wörtliche Wiedergabe erfüllt diese Anforderungen nicht. Der Kläger muss sich zudem mit dem angefochtenen Planfeststellungsbeschluss auseinandersetzen; eine lediglich pauschale Bezugnahme auf im Planfeststellungsverfahren erhobene Einwände oder deren Wiederholung ohne Würdigung des Planfeststellungsbeschlusses genügt ebenso wenig wie ein bloßes Bestreiten tatsächlicher Feststellungen der Planung. Auch muss das Klagevorbringen aus sich heraus ohne Weiteres verständlich sein. Denn es ist nicht Aufgabe des Gerichts, aus den eingereichten Schriftsätzen im Wege der Auslegung den Sachvortrag sowie etwaige konkludent gestellte Anträge zu ermitteln oder zu konkretisieren (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. November 2020 - 9 A 7.19 - BVerwGE 170, 138 Rn. 14 ff. m. w. N.).

13 II. Die von dem Kläger hiergegen vorgebrachten Einwände hat der Senat mit ausführlicher Begründung bereits in seinem Urteil vom 3. November 2020 - 9 A 7.19 - (BVerwGE 163, 380 Rn. 18 ff.) zurückgewiesen und eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union abgelehnt. Der Senat sieht keinen Anlass, von seiner gefestigten Rechtsprechung abzuweichen.

14 1. Die Kritik des Klägers, es sei einem Prozessbevollmächtigten nicht möglich, den angefochtenen Planfeststellungsbeschluss innerhalb der Begründungsfrist unter Zuhilfenahme gutachterlichen Sachverstands umfassend zu prüfen und Einwände substantiiert zu formulieren, lässt die aus der Komplexität von Infrastrukturgroßvorhaben auch für dagegen gerichtete Klageverfahren folgenden besonderen Umstände unberücksichtigt, denen der Gesetzgeber zur...

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