Urteil vom 09. April 2024 - 1 BvR 2017/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2024:rs20240409.1bvr201721 |
Judgement Number | 1 BvR 2017/21 |
Date | 09 Abril 2024 |
Citation | BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 09. April 2024 - 1 BvR 2017/21 -, Rn. 1-118, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Ersten Senats vom 9. April 2024
- 1 BvR 2017/21 -
Vaterschaftsanfechtung
- Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gibt im Einzelnen weder vor, welche Personen als Eltern Träger des Elterngrundrechts und Inhaber der Elternverantwortung sind, noch die von den Eltern zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung benötigten Handlungsmöglichkeiten. Beides bedarf der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, der dabei die das Elternrecht im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG prägenden Strukturmerkmale beachten muss
- Im Rahmen seiner Ausgestaltungspflicht kann der Gesetzgeber die Festlegung derjenigen Personen, die Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind, sowohl auf der Statusebene rechtlicher Elternschaft als auch bei dem Innehaben von Elternverantwortung durch eine entsprechende Zuordnung im Fachrecht begründen. Unabhängig von einer fachrechtlichen Zuordnung sind jedenfalls die leiblichen Eltern eines Kindes Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG
- Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG muss es grundsätzlich möglich sein, Elternverantwortung für ihre Kinder erhalten und ausüben zu können. Das gibt nicht zwingend vor, das Innehaben von Elternverantwortung und die Anzahl der Träger des Elterngrundrechts von vornherein auf zwei Elternteile zu beschränken; Träger können daher auch Mutter, leiblicher Vater und rechtlicher Vater nebeneinander sein (anders noch BVerfGE 108, 82 <102 ff.>; 133, 59 <78 Rn. 52>). Aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG folgt aber schon aufgrund seiner Kindeswohlorientierung eine enge Begrenzung der Zahl der Elternteile (insoweit Fortführung von BVerfGE 108, 82 <103>)
- Sieht der Gesetzgeber im Rahmen seiner Ausgestaltungspflicht eine rechtliche Elternschaft von drei Elternteilen im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG vor, ist er nicht gehalten, allen diesen Elternteilen gleiche Rechte im Verhältnis zu ihrem Kind einzuräumen, sondern er kann die jeweilige Rechtsstellung der Elternteile differenzierend ausgestalten.
- Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert einem leiblichen Vater die Möglichkeit, auch rechtlicher Vater seines Kindes zu werden. Schließt das Fachrecht — verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt zulässig — eine rechtliche Vaterschaft von mehr als einem Vater aus, muss dem leiblichen Vater ein hinreichend effektives Verfahren zur Verfügung stehen, das ihm die Erlangung der rechtlichen Vaterschaft ermöglicht. Dem Elterngrundrecht des leiblichen Vaters wird nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn dabei seine gegenwärtige oder frühere sozial-familiäre Beziehung zum Kind, das frühzeitige und konstante Bemühen um die rechtliche Vaterschaft oder der Wegfall einer sozial-familiären Beziehung des Kindes zu seinem bisherigen rechtlichen Vater nicht berücksichtigt werden können.
Verkündet
am
9. April 2024
Langendörfer
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2017/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
-
(…) -
1. |
unmittelbar gegen |
|
den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg |
||
2. |
mittelbar gegen |
|
§ 1600 Absatz 2 Alternative 1 und Absatz 3 Satz 1 BGB |
hat das Bundesverfassungsgericht — Erster Senat —
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel,
Wolff,
Eifert,
Meßling
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 26. September 2023 durch
für Recht erkannt:
- § 1600 Absatz 2 und Absatz 3 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der Fassung des Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20. Juli 2017 (Bundesgesetzblatt I Seite 2780) ist mit Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.
- § 1600 Absatz 2 und Absatz 3 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs gilt bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2025, fort. Bis zu einer Neuregelung sind durch Anträge von Anfechtungsberechtigten nach § 1600 Absatz 1 Nummer 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs eingeleitete Verfahren auf deren Antrag hin auszusetzen.
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 28. Juli 2021 - 8 UF 95/21 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Naumburg zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.
- Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Sachsen-Anhalt haben dem Beschwerdeführer die in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu gleichen Teilen zu erstatten.
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnde verfassungsrechtliche Stellung eines (feststehend) leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters eines Kindes. Sie richtet sich unmittelbar gegen einen Beschluss des Oberlandesgerichts, mit dem dieses den Antrag des Beschwerdeführers, festzustellen, dass er als leiblicher Vater des Kindes auch dessen rechtlicher Vater ist, zurückgewiesen hat. Damit ist auch die Frage aufgeworfen, ob die gesetzlichen Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs über das Recht eines leiblichen Vaters, die Vaterschaft des rechtlichen Vaters des Kindes anzufechten, der Gewährleistung des Elternrechts des leiblichen Vaters verfassungsrechtlich hinreichend Rechnung tragen.
I.
1. Die Zuordnung des Kindes zu seinen Eltern als Statusverhältnis mit Wirkung für und gegen jedermann erfolgt über die im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelte rechtliche Elternschaft (vgl. nur Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 7. Aufl. 2020, § 52 Rn. 5 m.w.N.). Diese ist mit der leiblichen Elternschaft nicht immer identisch. Rechtliche Mutter eines Kindes ist nach § 1591 BGB die Frau, die es geboren hat. § 1592 BGB bestimmt als rechtlichen Vater entweder denjenigen Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist (Nr. 1) oder denjenigen, der die Vaterschaft mit Zustimmung der Mutter anerkannt hat (Nr. 2) oder denjenigen, dessen Vaterschaft nach § 1600d BGB oder § 182 Abs. 1 FamFG gerichtlich festgestellt ist (Nr. 3). Der Eltern-Kind-Zuordnung als Statusverhältnis kommt erhebliche Bedeutung sowohl im Innen- als auch im Außenverhältnis zu (vgl. Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, § 1 IV Rn. 40). So setzt die elterliche Sorge (§§ 1626 ff. BGB) die rechtliche Elternschaft voraus. Ebenso hängen etwa die Staatsangehörigkeit oder der Familienname des Kindes von der rechtlichen Elternschaft ab.
Als leibliche Eltern eines Kindes werden herkömmlich der Mann und die Frau verstanden, die das Kind durch Geschlechtsverkehr mit ihren Keimzellen gezeugt haben, wenn diese Frau das Kind anschließend geboren hat (vgl. dazu die Darstellung bei Sanders, Mehrelternschaft, 2018, S. 6). Ein solches Verständnis von leiblicher Elternschaft liegt auch den fachrechtlichen Regelungen zur Vaterschaftsanfechtung zugrunde, wie sich vor allem aus der Anfechtungsberechtigung nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB und der Anfechtungsvoraussetzung leiblicher Vaterschaft in § 1600 Abs. 2 letzter Halbsatz BGB ergibt.
Die rechtliche Vaterschaft kann nach § 1600 Abs. 1 BGB von dem rechtlichen Vater selbst (Nr. 1), dem Mann, der an Eides statt versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben (Nr. 2), der Mutter (Nr. 3) und dem Kind (Nr. 4) angefochten werden. Die Anfechtungsberechtigung nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB wurde im Jahr 2004 in Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 9. April 2003 - 1 BvR 1493/96 u.a. - (BVerfGE 108, 82) eingeführt. In dieser Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass Art. 6 Abs. 2 GG den leiblichen Vater, der nicht rechtlicher Vater ist, in seinem Interesse schützt, die Stellung des rechtlichen Vaters einzunehmen, und ihm damit grundsätzlich einen verfahrensrechtlichen Zugang zum Elternrecht gewährleistet (vgl. BVerfGE 108, 82 <104>).
In seiner geltenden Fassung lautet § 1600 BGB — soweit für das Verfahren von Bedeu-tung — wie folgt:
(1) Berechtigt, die Vaterschaft anzufechten, sind:
1. der Mann, dessen Vaterschaft nach § 1592 Nr. 1 und 2, § 1593 besteht,
2. der Mann, der an Eides statt versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben,
3. die Mutter und
4. das Kind.
(2) Die Anfechtung nach Absatz 1 Nr. 2 setzt voraus, dass zwischen dem Kind und seinem Vater im Sinne von Absatz 1 Nr. 1 keine sozial-familiäre Beziehung besteht oder im Zeitpunkt seines Todes bestanden hat und dass der Anfechtende leiblicher Vater des Kindes ist.
(3) 1 Eine sozial-familiäre Beziehung nach Absatz 2 besteht, wenn der Vater im Sinne von Absatz 1 Nr. 1 zum maßgeblichen Zeitpunkt für das Kind tatsächliche Verantwortung trägt oder getragen hat. 2 Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung liegt in der Regel vor, wenn der Vater im Sinne von Absatz 1 Nr. 1 mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat.
(4) …
Die Regelung der Fristen...
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