Urteil vom 12.12.2023 - BVerwG 5 C 10.22

JurisdictionGermany
Judgment Date12 Diciembre 2023
Neutral CitationBVerwG 5 C 10.22
ECLIDE:BVerwG:2023:121223U5C10.22.0
CitationBVerwG, Urteil vom 12.12.2023 - 5 C 10.22 -
Record Number121223U5C10.22.0
Registration Date16 Abril 2024
Subject MatterUnterhaltsvorschussgesetz
CourtDas Bundesverwaltungsgericht

BVerwG 5 C 10.22

  • VG Minden - 25.11.2020 - AZ: 6 K 1002/20
  • OVG Münster - 04.07.2022 - AZ: 12 A 3621/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 12. Dezember 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen-Weiß, Dr. Harms und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Holtbrügge und Preisner
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Juli 2022 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen
  2. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten
Gründe I

1 Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz.

2 Die Klägerin beantragte im Februar 2020 die Gewährung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz für ihre siebenjährige Tochter J. und deren Zwillingsschwester S. (BVerwG 5 C 9.22 ), da die Kinder bei ihr lebten und der Kindesvater keinen Unterhalt zahle. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10. März 2020 ab und wies den hiergegen gerichteten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16. April 2020 zurück. Die Kinder lebten nicht im Sinne des Gesetzes bei der Klägerin, weil sie gemäß einer familienrechtlichen Vereinbarung vierzehntägig von Mittwochnachmittag bis Montagmorgen beim Vater seien, der sie in dieser Zeit regelmäßig betreue und sie darüber hinaus auch während eines Krankenhausaufenthalts der Klägerin anlässlich der Geburt ihres dritten Kindes versorgt habe. Die auf Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen gerichtete Klage blieb in beiden Vorinstanzen erfolglos. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht im Wesentlichen darauf abgestellt, die Klägerin sei seit einem im Januar 2017 gestellten und bestandskräftig abschlägig beschiedenen ersten Antrag auf Unterhaltsvorschussleistungen durchgängig bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides im April 2020 angesichts der Mitbetreuung durch den Kindesvater nicht alleinerziehend im Sinne des Gesetzes. Die Eltern seien gemeinsam sorgeberechtigt und praktizierten dies auch. Der Mitbetreuungsanteil des Vaters betrage schon während der Schulzeiten 36 vom Hundert und führe zu einer wesentlichen Entlastung der Klägerin bei der Betreuung der Kinder.

3 Mit ihrer vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision macht die Klägerin insbesondere geltend, das gemeinsame Sorgerecht sage nichts über die tatsächliche Betreuung der Kinder aus. Ein Kind befinde sich in der Obhut desjenigen Elternteils, in dessen Wohnung es vorwiegend lebe und der die elementaren Lebensbedürfnisse des Kindes nach Pflege, Verköstigung, Kleidung, ordnender Gestaltung des Tagesablaufs und ständig abrufbereiter emotionaler Zuwendung vorrangig befriedige oder sicherstelle. Unterbrechungen durch regelmäßige Besuchsaufenthalte in der Wohnung des anderen Elternteils änderten hieran nichts.

4 Der Beklagte tritt der Revision unter Hinweis darauf entgegen, dass es auf eine exakte zeitliche Grenze der Betreuungsanteile nicht ankomme, entscheidend sei eine Einzelfallbetrachtung, ob und in welchem Umfang die Mitbetreuung eine Entlastung des hauptbetreuenden Elternteils bewirke.

II

5 Die Revision der Klägerin ist begründet. Der angefochtene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts beruht auf einer Verletzung revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) (1.). Der Senat kann mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz nicht in der Sache selbst entscheiden (2.). Das Urteil ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (3.).

6 1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts beruht sowohl auf einer Verletzung des § 88 VwGO (a) als auch des § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Sicherung des Unterhalts von Kindern alleinstehender Mütter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfallleistungen (Unterhaltsvorschussgesetz - UVG) vom 17. Juli 2007 (BGBl. I S. 1446), zuletzt geändert durch Art. 1 Nr. 1 Buchst. a) des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3194) (b).

7 a) Der angefochtene Beschluss verletzt § 88 VwGO, soweit das Oberverwaltungsgericht auch über einen Anspruch auf Unterhaltsvorschussleistungen für den Zeitraum von Januar 2017 bis Januar 2020 entschieden hat. Ein Verstoß gegen § 88 VwGO ist ein im Revisionsverfahren auch ohne Verfahrensrüge von Amts wegen zu beachtender Verfahrensmangel (BVerwG, Urteil vom 5. Mai 1983 - 5 C 34.82 - Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 2 S. 3). Gemäß § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Es hat vielmehr das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln. Maßgebend für dessen Umfang ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel. Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) heranzuziehen. Entscheidend ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und den sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück. Ist der Kläger im Verwaltungsprozess anwaltlich vertreten, kommt der Fassung des Klageantrags bei der Ermittlung des tatsächlich Gewollten zwar eine gesteigerte Bedeutung zu. Weicht das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung jedoch eindeutig ab, darf auch im Falle anwaltlicher Vertretung die Auslegung vom Antragswortlaut abweichen (BVerwG, Beschluss vom 23. November 2022 - 6 B 22.22 - NVwZ-RR 2023, 342 Rn. 19 m. w. N.).

8 Hier erfasst das vom Bundesverwaltungsgericht selbst zu ermittelnde (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Januar 2022 - 5 C 6.20 - BVerwGE 174, 328 Rn. 8; Wöckel, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 88 Rn. 13) Klagebegehren eindeutig nur Ansprüche auf Unterhaltsvorschussleistungen ab Februar 2020. Dies ergibt sich aus der in den erst- und zweitinstanzlich gestellten Anträgen enthaltenen Bezugnahme auf die angefochtenen Bescheide sowie der Klage- bzw. Berufungsbegründung. Der von der Klägerin angegriffene Ablehnungsbescheid vom 10. März 2020 sowie der Widerspruchsbescheid vom 16. April 2020 befassen sich ausschließlich mit dem von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen ab Antragstellung im Februar 2020. Das ergibt ihre am Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) orientierte Auslegung, die das Bundesverwaltungsgericht mangels entsprechender...

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