Urteil vom 15.01.2019 - BVerwG 1 C 15.18

JurisdictionGermany
Judgment Date15 Enero 2019
Neutral CitationBVerwG 1 C 15.18
ECLIDE:BVerwG:2019:150119U1C15.18.0
Applied RulesAufenthG § 60 Abs. 1, 2, und 10,Richtlinie 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Buchst. a, Art. 46,AsylG § 29 Abs. 1, § 34 Abs. 2 Satz 1, §§ 35, 36 Abs. 1, § 37 Abs. 1 und 3,EMRK Art. 3,GRC Art. 4,GG Art. 20 Abs. 2 und 3,VwGO § 80 Abs. 4 und 5
Registration Date27 Febrero 2019
Record Number150119U1C15.18.0
Subject MatterAsylrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
CitationBVerwG, Urteil vom 15.01.2019 - 1 C 15.18

BVerwG 1 C 15.18

  • VG Gießen - 15.01.2018 - AZ: VG 2 K 5228/17.GI.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 15. Januar 2019
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann
für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 15. Januar 2018 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe I

1 Die Beteiligten streiten über die sich aus § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG ergebenden Rechtsfolgen eines stattgebenden gerichtlichen Eilbeschlusses.

2 Der Kläger, ein syrischer Staatsangehöriger, erhielt im Oktober 2015 in Griechenland Flüchtlingsschutz. Anfang 2017 stellte er in Deutschland erneut einen Asylantrag. Diesen Antrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - mit Bescheid vom 21. Juni 2017 als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2). Zugleich drohte es dem Kläger die Abschiebung nach Griechenland an verbunden mit der Feststellung, dass er nicht nach Syrien abgeschoben werden darf (Ziffer 3), und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Es begründete seine Entscheidung damit, dass der Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig sei, weil dem Kläger bereits in Griechenland internationaler Schutz gewährt worden sei. Dort drohe ihm auch keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung.

3 Hiergegen erhob der Kläger Klage und begehrte vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO. Mit Beschluss vom 17. Juli 2017 gab das Verwaltungsgericht dem Eilantrag statt und ordnete die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung an. Zur Begründung führte es aus, dass das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Eilverfahren nicht abschließend geklärt werden könne.

4 Mit Urteil vom 15. Januar 2018 stellte das Verwaltungsgericht antragsgemäß fest, dass die Regelungen in Ziffern 1 und 3 des Bescheids des Bundesamts unwirksam geworden sind, und hob den Bescheid im Übrigen auf. Die Unzulässigkeitsentscheidung und die Abschiebungsandrohung seien mit der stattgebenden Entscheidung im Eilverfahren unwirksam geworden, ohne dass es darauf ankomme, aus welchen Gründen dem Eilantrag stattgegeben worden sei. Einer teleologischen Reduktion des § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf Fälle, in denen auch die Unzulässigkeitsentscheidung durchgreifenden rechtlichen Zweifeln begegne, widerspreche die Ausnahmeregelung in § 37 Abs. 3 AsylG. Die gleichzeitige Anordnung der Fortführung des Asylverfahrens berühre zwar nicht die Regelung in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG; das Bundesamt könne aber im Übrigen zu einer abweichenden Beurteilung kommen. Mit der Unwirksamkeit der Unzulässigkeitsentscheidung und der Abschiebungsandrohung entfielen die Voraussetzungen für die Entscheidung des Bundesamts zum nationalen Abschiebungsschutz und zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots.

5 Die Beklagte rügt mit der Sprungrevision insbesondere eine Verletzung des § 37 Abs. 1 AsylG und des § 60 Abs. 1 und 2 AufenthG. Gegen eine uneingeschränkte Anwendung des § 37 Abs. 1 AsylG spreche, dass eine Fortsetzung des Verfahrens nicht sinnvoll sei und dem Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung und -konzentration widerspreche, wenn hinsichtlich der Zulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG keine andere Entscheidung ergehen könne. Auch nach § 60 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG scheide bei anderweitiger Schutzgewähr eine Sachprüfung aus. Die Vorgängerregelung in § 37 AsylG a.F. habe nur unbeachtliche Asylanträge erfasst. Bei der Neufassung des § 37 AsylG handele es sich um eine Folgeänderung zur Abschaffung dieser Kategorie. Asylanträge nach Zuerkennung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat seien nie unbeachtlich gewesen, da die Mitgliedstaaten keine "sonstigen" Drittstaaten seien. Angesichts der auch in diesen Fällen bestehenden Verfolgungssicherheit habe es nahe gelegen, die Unzulässigkeitsfälle des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in die Neufassung des § 35 AsylG aufzunehmen. Bei der überschießenden Fortführung der Verweisungskette in § 37 AsylG handele es sich hingegen um ein redaktionelles Versehen, dem durch teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs zu begegnen sei. Dem stehe weder die Ausnahmeregelung des § 37 Abs. 3 AsylG noch die Möglichkeit entgegen, dass bei einer erneuten Verbescheidung jedenfalls zum nationalen Abschiebungsschutz, der Abschiebungsandrohung und der Einreise- und Aufenthaltssperre eine andere Entscheidung ergehen könnte. Das Abstellen auf den Ausgang des Eilverfahrens sei systematisch für unbeachtliche Asylanträge entwickelt worden. Hier sei die Fortführung des Asylverfahrens gemäß § 29 Abs. 2 AsylG a.F. vorgegeben gewesen, wenn - aus welchen Gründen auch immer - eine Rückführung nicht innerhalb von drei Monaten möglich gewesen sei. Die nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, § 60 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG dauerhaft gebotene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sei damit nicht vergleichbar. Die Entscheidung, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfe, hätte schon deshalb nicht aufgehoben werden dürfen, weil sie den Kläger nicht in seinen Rechten verletze.

6 Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung. Eine teleologische Reduktion sei nicht möglich. Mit der Verpflichtung zur Fortführung des Verfahrens müsse das Bundesamt eine inhaltliche Entscheidung treffen und dürfe den Asylantrag nicht erneut als unzulässig ablehnen. Die Beseitigung von Unklarheiten bei der Anwendung des § 37 Abs. 1 AsylG obliege allein dem Gesetzgeber.

II

7 Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Unzulässigkeitsentscheidung und die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts vom 21. Juni 2017 unwirksam geworden sind (1.). Auch die Aufhebung der Entscheidung zum nationalen Abschiebungsschutz und zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist nicht zu beanstanden (2.). Soweit das Bundesamt zusammen mit der Abschiebungsandrohung nach Griechenland festgestellt hat, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden darf, war diese - den Kläger ausschließlich begünstigende - Feststellung bei sachdienlicher Auslegung von seinem Klagebegehren nie umfasst. Folgerichtig hat das Verwaltungsgericht hierzu keine Entscheidung getroffen.

8 Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des klägerischen Begehrens ist das Asylgesetz in seiner aktuellen Fassung (derzeit: in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 , zuletzt geändert durch das während des Revisionsverfahrens am 12. Dezember 2018 in Kraft getretene Dritte Gesetz zur Änderung des Asylgesetzes vom 4. Dezember 2018 ) - AsylG -. Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Rechtslage zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die hier maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts allerdings nicht geändert.

9 1. Die Klage ist hinsichtlich der Unzulässigkeitsentscheidung und der Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts (Ziffern 1 und 3) mit dem vom Kläger vor dem Verwaltungsgericht zuletzt gestellten Feststellungsantrag zulässig und begründet.

10 Nach § 37 Abs. 1 AsylG werden die Entscheidung des Bundesamts über die Unzulässigkeit des Antrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG und die Abschiebungsandrohung unwirksam, wenn das Verwaltungsgericht dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO entspricht (Satz 1); das Bundesamt hat das Asylverfahren fortzuführen (Satz 2). Diese Vorschrift regelt die besonderen gesetzlichen Wirkungen eines erfolgreichen Eilantrags gegen eine Abschiebungsandrohung im Falle eines vom Bundesamt nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat) oder nach § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG (Aufnahmebereitschaft eines sonstigen Drittstaats, in dem der Ausländer vor Verfolgung sicher war) als unzulässig abgelehnten Asylantrags. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG vorliegen (a). Dies führt zur Unwirksamkeit der Unzulässigkeitsentscheidung und der Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts vom 21. Juni 2017 (b). Weder handelt es sich bei der ausdrücklichen Einbeziehung von Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG um ein Redaktionsversehen (aa) noch lassen sich der Anwendungsbereich oder die...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT