Urteil vom 16.02.2022 - BVerwG 1 C 6.21

JurisdictionGermany
Judgment Date16 Febrero 2022
Neutral CitationBVerwG 1 C 6.21
ECLIDE:BVerwG:2022:160222U1C6.21.0
Registration Date18 Mayo 2022
Record Number160222U1C6.21.0
Subject MatterAusländerrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
CitationBVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 -

BVerwG 1 C 6.21

  • VG Bremen - 31.08.2020 - AZ: VG 4 K 1680/18
  • OVG Bremen - 17.02.2021 - AZ: OVG 2 LC 311/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 16. Februar 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 17. Februar 2021 wird zurückgewiesen
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Gründe I

1 Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland und ein auf drei Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot.

2 Der im April 1975 in der Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste im Juli desselben Jahres zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seine Mutter war mindestens von September 1978 bis März 1984 als Arbeitnehmerin ordnungsgemäß auf dem regulären deutschen Arbeitsmarkt beschäftigt. Seine Mutter und seine vier älteren Geschwister leben in Deutschland. Der Vater ist verstorben. Seit seiner Kindheit leidet der Kläger an Mittelmeeranämie, aufgrund derer das Versorgungsamt Bremen einen Grad der Behinderung von 30 Prozent ab dem 30. Mai 2001 bescheinigt hat. Der Kläger besuchte in Deutschland die Schule bis zur 10. Klasse. Einen Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbildung besitzt er nicht. Zeitweise bezog er Arbeitslosengeld II, zeitweise war er - zum Teil geringfügig - berufstätig. Seit Dezember 1991 besaß der Kläger einen unbefristeten Aufenthaltstitel, der ab Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortbestand.

3 Der Kläger ist Vater von vier Kindern, die deutsche Staatsangehörige sind und die aus anderen Beziehungen stammen. Zu den beiden Ältesten hat er seit langem keinen Kontakt mehr. Mit einer anderen Frau hat der Kläger zwei in den Jahren 2014 und 2019 geborene Töchter. Die 2014 geborene Tochter ist seit ihrem zweiten Lebensjahr in Pflegefamilien oder Einrichtungen untergebracht. Für die jüngste Tochter hat der Kläger gemeinsam mit der Kindesmutter das Sorgerecht, mit der er sich zuletzt außergerichtlich auf einen Umgang mit der Tochter verständigt hat, der begleitet und unter Aufsicht des Jugendamts zweimal im Monat stattgefunden hat. Seit 2010 ist der Kläger mit einer deutschen Staatsangehörigen liiert, die er 2019 in der Haft geheiratet und mit der er seit der Haftentlassung im November 2019 zusammengelebt hat.

4 Der Kläger wurde zwischen 1996 und 2016 achtmal zu Geldstrafen und siebenmal zu Freiheitsstrafen, von denen sechs zur Bewährung ausgesetzt und nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen wurden, verurteilt. Zuletzt verurteilte das Landgericht Bremen den Kläger am 1. Juli 2016 wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und vier Monaten. Seine Ehefrau wurde als Gehilfin zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Nachdem sich der Kläger zunächst in Untersuchungshaft befunden hatte, verbüßte er bis November 2019 die Freiheitsstrafe aus dem vorgenannten Urteil. Die Vollstreckung des Strafrests wurde zur Bewährung ausgesetzt.

5 Nach Anhörung des Klägers durch das Migrationsamt der Beklagten im Juli 2017 und Mitteilung der Zuständigkeitsübernahme durch den Senator für Inneres der Beklagten Ende Mai 2018 wies dieser den Kläger mit Bescheid vom 27. Juni 2018 für die Dauer von drei Jahren aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziff. 1). Zudem wurde festgestellt, dass die Niederlassungserlaubnis erloschen ist (Ziff. 2). Zur Begründung führte der Senator für Inneres im Wesentlichen aus, dass das persönliche Verhalten des Klägers, insbesondere mit Blick auf die der strafrechtlichen Verurteilung vom 1. Juli 2016 zugrundeliegende Anlasstat, gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Nach der auf spezialpräventiven Gesichtspunkten abzustellenden Gefährdungsprognose bestehe angesichts seiner umfangreichen strafrechtlichen Vita, der Art und Schwere seiner bisherigen Rechtsverstöße und der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe, seiner Verwurzelung im Betäubungsmittelmilieu sowie seiner Persönlichkeitsstruktur, seines Vollzugsverhaltens und seiner Sozialprognose die begründete Annahme, dass der Kläger auch zukünftig die öffentliche Ordnung durch einschlägige Straftaten gefährden und in schützenswerte Rechtsgüter eingreifen werde. Nach Abwägung aller Gesichtspunkte überwiege das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers dessen persönlichen Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet. Bei der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots seien in die Ermessensentscheidung einerseits die vom Kläger ausgehende Gefahr, andererseits dessen persönlichen Belange wie seine Aufenthaltsberechtigung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsbürger, seine Stellung als faktischer Inländer und seine privaten Beziehungen zu seinen Familienangehörigen berücksichtigt worden.

6 Mit seiner fristgerecht erhobenen Klage hat der Kläger insbesondere geltend gemacht, die Beklagte habe seine Rechtsposition als assoziationsberechtigter türkischer Staatsbürger sowie seine chronische Erkrankung an Mittelmeeranämie nicht hinreichend berücksichtigt. Er sei in Deutschland auf den Beistand seiner hier lebenden Angehörigen angewiesen. Zudem lägen Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 5 und 7 AufenthG hinsichtlich der Türkei vor.

7 Nachdem der Senator für Inneres der Beklagten dem Kläger mit Ergänzungsbescheid vom 27. Mai 2019 die Abschiebung in die Türkei angedroht sowie die sofortige Vollziehung von Ausweisung und Abschiebungsandrohung angeordnet hatte, hat der Kläger die Klage zunächst auf diesen Bescheid erweitert. Der gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ausweisung und Abschiebungsandrohung gestellte Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist erstinstanzlich mit Beschluss vom 16. Oktober 2019 abgelehnt worden. Mit Beschluss vom 23. Februar 2021 hat das Oberverwaltungsgericht die hiergegen gerichtete Beschwerde zwischenzeitlich zurückgewiesen.

8 Am 22. Oktober 2019 hat der Kläger einen Asylantrag gestellt, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend Bundesamt) mit Bescheid vom 2. Januar 2020 als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat. Nachdem das Verwaltungsgericht aufgrund eines diesbezüglichen Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 11. Mai 2020 die aufschiebende Wirkung angeordnet hatte, da die in der Abschiebungsandrohung verfügte Ausreisefrist gegen Unionsrecht verstoße, erließ das Bundesamt mit Bescheid vom 30. Oktober 2020 eine neue Abschiebungsandrohung und ein neues auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot. Auch hiergegen hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Der hiergegen gestellte Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wurde mit Beschluss vom 19. Januar 2021 abgelehnt.

9 Mit Schreiben vom 21. August 2020 hat die Beklagte ihr Vorbringen im Klageverfahren die Ausweisung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot betreffend dahingehend ergänzt, dass das Ausweisungsinteresse überwiege, auch wenn nunmehr durch die Heirat mit einer deutschen Staatsangehörigen ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG vorliege. Zudem begründe die Geburt des jüngsten Kindes nicht die Verkürzung der streitgegenständlichen Befristungsentscheidung.

10 Mit Urteil vom 31. August 2020 hat das Verwaltungsgericht das Verfahren nach Aufhebung der im Ergänzungsbescheid der Beklagten vom 27. Mai 2019 verfügten Abschiebungsandrohung und übereinstimmender Erledigungserklärung insoweit eingestellt und die Klage im Übrigen abgewiesen.

11 Im Berufungsverfahren hat der Kläger sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft. Die Beklagte hat im Wesentlichen auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.

12 Mit Urteil vom 17. Februar 2021 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Ausweisung des Klägers für die Dauer von drei Jahren sei formell und materiell rechtmäßig. Es bestehe die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut bewaffneten Handel mit Heroin oder Kokain in nicht geringer Menge treiben werde. Die Ausweisung sei für die Wahrung des Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich. Die Interessenabwägung gehe unter Berücksichtigung der bestehenden hohen Rückfallwahrscheinlichkeit einerseits und der privaten Bleibeinteressen des Klägers wie seiner Vaterschaft, der Beziehung zu seiner deutschen Ehefrau, seiner Erkrankung, der Beziehungen zu seiner Mutter und zu seinen Geschwistern, seiner Stellung als faktischer Inländer und den Herausforderungen bei der Reintegration in der Türkei andererseits zulasten des Klägers aus. Ob ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG bestehe, weil dem Kläger in der Türkei Folter und/oder Inhaftierung wegen einer ihm unterstellten Nähe zur PKK drohe, könne im Ausweisungsverfahren nicht geprüft werden. Materiell mache der Kläger Gründe für eine Asylanerkennung, Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz geltend. Aber selbst...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT