Urteil vom 16.05.2023 - BVerwG 3 CN 5.22

JurisdictionGermany
Judgment Date16 Mayo 2023
Neutral CitationBVerwG 3 CN 5.22
ECLIDE:BVerwG:2023:160523U3CN5.22.0
Record Number160523U3CN5.22.0
CitationBVerwG, Urteil vom 16.05.2023 - 3 CN 5.22 -
Registration Date10 Octubre 2023
Subject MatterGesundheitsverwaltungsrecht einschl. des Rechts der Heilberufe, der Gesundheitsfachberufe und des Krankenhausfinanzierungsrechts sowie des Seuchen- und Infektionsschutzrechts
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesGG Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und 3, Art. 19 Abs. 4 Satz 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 80 Abs. 1 Satz 2,IfSG § 28 Abs. 1, §§ 31, 32 Abs. 1,VwGO § 47 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1,SaarlVO-CP vom 30. Oktober 2020 § 7 Abs.1 Satz 1

BVerwG 3 CN 5.22

  • OVG Saarlouis - 07.07.2022 - AZ: 2 C 326/20

In der Normenkontrollsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 11. Mai 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Sinner und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hellmann
am 16. Mai 2023 für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 7. Juli 2022 wird aufgehoben
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten
Gründe I

1 Der Antragsteller, der im Saarland ein Gourmetrestaurant betreibt, wendet sich gegen die in § 7 Abs. 1 Satz 1 der saarländischen Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (VO-CP) vom 30. Oktober 2020 (Amtsbl. I S. 1049) angeordnete Schließung von Gastronomiebetrieben und begehrt nach dem Außer-Kraft-Treten der Regelung die Feststellung, dass sie unwirksam war.

2 Die Verordnung war gestützt auf § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom 20. Juli 2000, das zuletzt durch Gesetz vom 19. Juni 2020 geändert worden war. Sie trat am 2. November 2020 in Kraft und mit Ablauf des 15. November 2020 außer Kraft.

3 § 7 Abs. 1 VO-CP lautete wie folgt:
§ 7
Betriebsuntersagungen und -beschränkungen
sowie Schließung von Einrichtungen
Verboten ist der Betrieb eines Gaststättengewerbes nach dem Saarländischen Gaststättengesetz vom 13. April 2011 (Amtsbl. I S. 206), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 12. Juni 2012 (Amtsbl. I S. 156), und der Betrieb sonstiger Gastronomiebetriebe jeder Art. Ausgenommen sind die Abgabe und Lieferung von mitnahmefähigen Speisen für den Verzehr außerhalb des Gastronomiebetriebs sowie der Betrieb von Kantinen.

4 Mit seinem am 4. November 2020 beim Oberverwaltungsgericht des Saarlandes eingegangenen Normenkontrollantrag wendet sich der Antragsteller gegen § 7 Abs. 1 Satz 1 VO-CP.

5 Mit Urteil vom 7. Juli 2022 hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass § 7 Abs. 1 Satz 1 VO-CP vom 30. Oktober 2020 unwirksam war. Zur Begründung wird ausgeführt: Der Normenkontrollantrag sei zulässig. Der Antragsteller habe ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit der angegriffenen Regelung. Die Betriebsuntersagung habe einen erheblichen Eingriff in seine durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit bewirkt; gerichtlicher Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren sei während der kurzen Laufzeit der Verordnung nicht zu erlangen gewesen. Der Normenkontrollantrag sei auch begründet. Die Verordnungsermächtigung in § 32 Satz 1 IfSG i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG in der bei Erlass der Verordnung geltenden Fassung habe nicht mehr den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bestimmtheitsgebots genügt. Gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG müssten Gesetze, die zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigten, Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen. Das Parlament solle sich seiner gesetzgeberischen Verantwortung nicht dadurch entäußern können, dass es einen Teil seiner Gesetzgebungsbefugnis auf die Exekutive übertrage, ohne die Grenzen dieser Kompetenzen bedacht und sie nach Tendenz und Programm so genau umrissen zu haben, dass die Bürger aus der gesetzlichen Ermächtigung erkennen könnten, was ihnen gegenüber zulässig sein solle und welchen möglichen Inhalt eine Verordnung haben könnte. Je schwerwiegender die grundrechtsrelevanten Auswirkungen für die Betroffenen seien, desto strengere Anforderungen gälten für die Bestimmtheit. Danach verstoße § 32 Satz 1 IfSG i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Eingriff in das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG sei von erheblicher Intensität gewesen; die Berufsausübung des Antragstellers sei im Wesentlichen untersagt worden. Ins Gewicht falle zudem, dass es sich bereits um den zweiten "Lockdown" gehandelt habe. Die Übergangszeit, in der aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls noch der Rückgriff auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel zulässig gewesen sei, sei im Oktober/November 2020 abgelaufen gewesen. Die sogenannte zweite Corona-Welle sei schon im Sommer 2020 vorhersehbar gewesen. Anders als im März des Jahres sei der Gesetzgeber im Herbst vom Anstieg der Corona-Infektionen nicht überrascht worden. Ihm wäre es möglich gewesen, jedenfalls bis zur parlamentarischen Sommerpause, spätestens aber unmittelbar danach die erforderliche parlamentsgesetzliche Grundlage für die pandemiebedingte Schließung von Gastronomiebetrieben zu erlassen. Äußerungen in der Rechtsprechung und der kritische Diskurs in der juristischen Fachwelt hätten ihn veranlassen müssen, den Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus die nötige parlamentarische Legitimation zu geben. Der Gesetzgeber habe aber erst Mitte November 2020 § 28a in das Infektionsschutzgesetz eingefügt. Es sei nicht anzunehmen, dass die Dauer des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens, regelungstechnische Schwierigkeiten oder politische Verständigungsbedarfe eine Übergangszeit von über einem halben Jahr erfordert hätten. Der parlamentarische Gesetzgeber habe mit den seit dem Beginn der Pandemie vorgenommenen Änderungen am Infektionsschutzgesetz seine Fähigkeit zu kurzfristigem Handeln bewiesen. Obwohl die Länder bereits Rechtsverordnungen mit Beschränkungen der hier in Rede stehenden Art und Eingriffsintensität erlassen hätten, habe er nichts an den materiellen Voraussetzungen von § 28 Abs. 1 IfSG geändert.

6 Zur Begründung seiner Revision trägt der Antragsgegner vor: Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts verletze Bundesrecht. Es habe zu Unrecht die Zulässigkeit des Normenkontrollantrags bejaht. Art. 19 Abs. 4 GG gebe keine Veranlassung, die Antragsbefugnis zu bejahen, obwohl die Rechtsverordnung bereits wieder außer Kraft getreten sei. Könnten alle, die Nachteile durch die erledigte Rechtsnorm erlitten hätten, deren Unwirksamkeit unabhängig davon geltend machen, ob damit ein konkreter Nutzen für sie verbunden sei, hätte das eine uferlose Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes zur Folge. Voraussetzung für eine gerichtliche Überprüfung sei daher, dass die begehrte Feststellung die Position des Antragstellers verbessern könne. Das Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit habe neben der erwerbswirtschaftlichen Seite auch einen Persönlichkeitsbezug; es diene der Selbstverwirklichung durch die Ausübung eines Berufs. Dieser persönlichkeitsrechtliche Aspekt sei für den Antragsteller ohne Bedeutung. Ihm sei es allein um den Betrieb seines Restaurants gegangen; in dieser Konstellation beschränke sich die Grundrechtsverwirklichung auf Gewinnerzielung. Diesem Interesse des Antragstellers werde hinreichend Rechnung dadurch getragen, dass er durch die substanziierte Darlegung der Absicht, Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche geltend zu machen, die nachträgliche Feststellung der Unwirksamkeit der außer Kraft getretenen Norm erreichen könne. Das Oberverwaltungsgericht habe jedoch festgestellt, dass der Antragsteller die Geltendmachung solcher Ansprüche nicht ernsthaft beabsichtige. Den behaupteten Schaden habe er nicht substanziiert. Auch Wiederholungsgefahr liege nicht vor. Bundesrechtswidrig sei außerdem die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, § 32 Satz 1 IfSG i. V. m. § 28 IfSG hätten im maßgeblichen Zeitraum nicht mehr den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bestimmtheitsgebots (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) genügt. Für die zu fordernde Regelungsdichte komme es auf die Intensität der Auswirkungen auf die Betroffenen und die Eigenart des zu regelnden Sachverhalts an. Der Infektionsschutz sei ein durch sich ständig wandelnde Umstände geprägter Bereich der Gefahrenabwehr. Dem Verordnungsgeber sei es schneller als dem Gesetzgeber möglich, ein Regelungsbedürfnis zu erkennen und die Regelungen auf dem neuesten Stand zu halten. Das habe den Gesetzgeber zur Aufnahme einer Generalklausel in das Infektionsschutzgesetz bewogen. Entstünden neue, vom Gesetzgeber nicht bedachte Gefährdungslagen, die zudem - wie bei der Corona-Pandemie - mit erheblichen prognostischen Unsicherheiten behaftet seien, könne jedenfalls für eine Übergangszeit auf die Generalklausel zurückgegriffen werden. Dieser Übergangszeitraum sei hier nicht überschritten gewesen. Die pandemische Lage habe sich bei Erlass der Verordnung sehr dynamisch und unvorhersehbar entwickelt. Auch Ende Oktober 2020 hätten noch keine eindeutigen Erkenntnisse zu den Gefahren einer COVID-19-Erkrankung und deren Wahrscheinlichkeit sowie zu den konkreten Infektionswegen vorgelegen. Ebenso wenig sei hinreichend bekannt gewesen, ob eine flächendeckende Impfung und eine effiziente Behandlung Erkrankter zeitnah möglich sein würden. Standardmaßnahmen hätten sich noch nicht entwickelt. Dass die Regierungsfraktionen am 3. November 2020 den Entwurf des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite mit einem nicht abschließenden Katalog von Schutzmaßnahmen in den Bundestag eingebracht hätten, rechtfertige nicht die Annahme, die Generalklausel habe nicht mehr ausgereicht. Nach der Gesetzesbegründung habe es sich um eine klarstellende Erweiterung gehandelt. Das Bundesverfassungsgericht räume dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist ein, wenn durch die Feststellung der Nichtigkeit einer Norm eine Lage entstünde, die von einem...

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