Urteil vom 17.08.2021 - BVerwG 1 C 1.21

JurisdictionGermany
Judgment Date17 Agosto 2021
Neutral CitationBVerwG 1 C 1.21
ECLIDE:BVerwG:2021:170821U1C1.21.0
CitationBVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 1.21 -
Registration Date09 Diciembre 2021
Subject MatterAsylrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Record Number170821U1C1.21.0

BVerwG 1 C 1.21

  • VG Berlin - 11.03.2019 - AZ: VG 31 K 335.18 A
  • OVG Berlin-Brandenburg - 13.11.2020 - AZ: OVG 3 B 16.19

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. August 2021
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. November 2020 wird zurückgewiesen
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Gründe I

1 Der Kläger, ein guineischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützte Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig.

2 Der Kläger reiste nach eigenen Angaben am 11. Februar 2018 in das Bundesgebiet ein und stellte am 20. Februar 2018 einen Asylantrag. Zuvor hatte er sich ausweislich einer Eurodac-Treffermeldung in Spanien aufgehalten.

3 Nachdem die spanischen Behörden einem Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 6. März 2018 zugestimmt hatten, lehnte dieses mit Bescheid vom 7. März 2018 den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Spanien an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4).

4 Dagegen erhob der Kläger am 16. März 2018 Klage und stellte einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 23. April 2018 abgelehnte. Das Bundesamt informierte die spanischen Behörden über die Einlegung eines Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung sowie über dessen Wegfall unter Angabe des Endes der Überstellungsfrist am 23. Oktober 2018.

5 Am 24. September 2018 erfolgte ein Überstellungsversuch, der abgebrochen wurde, weil der Kläger um 4:00 Uhr nicht in seiner Unterkunft angetroffen wurde. Das Bundesamt teilte der Ausländerbehörde mit, dass sich die Überstellungsfrist nicht geändert habe und am 23. Oktober 2018 ende.

6 Mit Schreiben vom 2. Oktober 2018 forderte das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten des Landes Berlin (Ausländerbehörde) den Kläger unter Berufung auf § 58 AufenthG auf, sich am 23. Oktober 2018 um 9:00 Uhr beim Polizeipräsidenten in Berlin zur Durchführung der Abschiebung einzufinden. Der Kläger erschien nicht zu dem genannten Termin. Am gleichen Tage teilte das Bundesamt den spanischen Behörden die Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate wegen Flüchtigseins mit Fristende am 23. Oktober 2019 mit.

7 Auf den Abänderungsantrag des Klägers ordnete das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 6. Dezember 2018 wegen Ablaufs der Überstellungsfrist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid des Bundesamtes vom 7. März 2018 an, woraufhin das Bundesamt die spanischen Behörden über die Unmöglichkeit der Überstellung wegen der Einlegung eines Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung informierte. Mit Urteil vom 11. März 2019 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamtes vom 7. März 2018 auf.

8 Die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 13. November 2020 zurückgewiesen. Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens sei mit Ablauf des 23. Oktober 2018 auf die Beklagte übergegangen. Sie habe die Überstellungsfrist nicht wirksam auf 18 Monate verlängern können. Ein Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO sei zu verneinen, wenn die Überstellung wegen fehlender Mitwirkung oder mangelnder Kooperation des Asylbewerbers bei fortbestehendem behördlichen Zugriff lediglich dahingehend erschwert werde, dass die Behörde zusätzlichen Vollstreckungsaufwand, etwa durch die Bereitstellung einer Begleitperson bei der Überstellung, betreiben müsse. Das Nichterscheinen zur Selbstgestellung führe nicht dazu, dass die Behörde keinen Zugriff (mehr) auf den Asylbewerber habe und aus diesem Grund seine Überstellung unmöglich sei. Auch wenn sich der Asylbewerber subjektiv der Überstellung entziehen wolle, so bleibe der behördliche Zugriff objektiv fortbestehen und er sei daher nicht flüchtig. Es sei nicht aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Klägers durch Befolgen der Selbstgestellungsaufforderung objektiv unmöglich gewesen, ihn mit Verwaltungszwang nach Spanien zu überstellen. Auch der abgebrochene Überstellungsversuch am 24. September 2018 begründe kein Flüchtigsein.

9 Zur Begründung ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. der Dublin III-VO und macht im Wesentlichen geltend, der Begriff des Flüchtigseins umfasse auch den Fall der Nichtbefolgung einer sogenannten Selbstgestellungsaufforderung. Anhaltspunkte dafür, dass der Unionsgesetzgeber auch Konstellationen der vorliegenden Art vom Begriff des Flüchtigseins grundsätzlich mit habe umfassen bzw. jedenfalls nicht ausschließen wollen, lieferten die unterschiedlichen Sprachfassungen und die Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin III-VO. Soweit die Regelungen auf eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung des zuständigen Mitgliedstaates zielten, setze dies die unbeeinträchtigte Möglichkeit eines Vollzugs der Überstellung innerhalb der Regelfrist von sechs Monaten voraus, was impliziere, dass auch der Drittstaatsangehörige keine Verhaltensweisen zeige, die sich nachhaltig auf die Durchführbarkeit einer angesetzten Überstellung auswirkten. Es könne keinen Unterschied machen, ob er aufgefordert sei, sich zum Zweck der Überstellung an einem bestimmten Ort einzufinden, oder ihm auferlegt werde, an dem zugewiesenen Aufenthaltsort zu verbleiben. Hinsichtlich der erforderlichen Kausalität des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen reiche bereits die vorübergehende bzw. zeitlich befristete Unmöglichkeit der Überstellung aus. Erscheine der Betroffene nicht zur Selbstgestellung, sei der Behörde in diesem Zeitpunkt der Vollzug der Überstellung nicht nur erschwert, sondern tatsächlich unmöglich.

10 Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil.

11 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht an dem Verfahren beteiligt.

II

12 Die zulässige Revision der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Im Einklang mit Bundesrecht hat das Berufungsgericht die Aufhebung der gegen den Kläger ergangenen Unzulässigkeitsentscheidung bestätigt. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG liegen nicht vor, weil die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist von Spanien auf Deutschland übergegangen ist. Die Beklagte hat die Überstellungsfrist nicht wirksam auf 18 Monate verlängert, weil die Voraussetzungen für die Annahme, der Kläger sei flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, nicht vorlagen (1.). Die Unzulässigkeitsentscheidung kann nicht in eine andere (Unzulässigkeits-)Entscheidung umgedeutet werden (2.). Zu Recht hat das Berufungsgericht auch die Aufhebung der Folgeentscheidungen durch das Verwaltungsgericht bestätigt (3.).

13 Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des auf die Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 7. März 2018 gerichteten Klagebegehrens sind das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), sowie das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), beide zuletzt geändert durch das Gesetz zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters vom 9. Juli 2021 (BGBl. I S. 2467). Unionsrechtlich maßgeblich sind...

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