Urteil vom 17.12.2020 - BVerwG 1 C 30.19

Judgment Date17 Diciembre 2020
Neutral CitationBVerwG 1 C 30.19
ECLIDE:BVerwG:2020:171220U1C30.19.0
CitationBVerwG, Urteil vom 17.12.2020 - 1 C 30.19
Applied RulesGG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1,EMRK Art. 8 Abs. 1, Art. 14,AufenthG § 6 Abs. 3 Satz 1, § 22 Satz 1 Alt. 2, § 27 Abs. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1, § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. c bis g, § 36 Abs. 2 Satz 1, § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, Satz 3 und 4, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2, Satz 2, Abs. 3 Nr. 1,RL 2003/86/EG Art. 3 Abs. 2 Buchst. c, Art. 4 Abs. 1 Buchst. a
Registration Date02 Marzo 2021
Record Number171220U1C30.19.0
Subject MatterAusländerrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht

BVerwG 1 C 30.19

  • VG Berlin - 28.06.2019 - AZ: VG 38 K 43.19 V

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 17. Dezember 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. Juni 2019 aufgehoben.
  2. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe I

1 Die Kläger begehren die Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin ein Visum zum Zwecke des Familiennachzugs zu dem Beigeladenen zu 2 zu erteilen.

2 Die Klägerin ist die Ehefrau, der im März 2016 in Jordanien geborene Kläger der Sohn des Beigeladenen zu 2. Die Vorgenannten sind syrische Staatsangehörige. Die Klägerin und der Beigeladene zu 2 verließen die Syrische Arabische Republik nach eigenen Angaben im Jahr 2012. In der Folge nahmen sie ihren Aufenthalt im Haschemitischen Königreich Jordanien. Dort gingen sie ihrem Bekunden zufolge im November 2012 die Ehe nach religiösem Ritus ein. Die förmliche Eheschließung vor einem Scharia-Gericht erfolgte im Juli 2014.

3 Der Beigeladene zu 2 reiste im September 2015 in das Bundesgebiet ein. Auf seinen im November 2015 gestellten Asylantrag erkannte ihm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) im November 2016 den subsidiären Schutzstatus zu. Seine gegen die Ablehnung seines Asylantrags im Übrigen erhobene Klage ist bei dem Verwaltungsgericht B. anhängig. Die Ausländerbehörde des Beigeladenen zu 1 erteilte ihm im November 2017 eine bis zum Mai 2021 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG.

4 Bereits im April 2016 beantragten die Kläger die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu dem Beigeladenen zu 2. Im März 2019 erteilte die Beklagte dem Kläger ein Visum zum Nachzug zu seinem Vater. Demgegenüber lehnte sie die Erteilung des von der Klägerin begehrten Visums zum Ehegattennachzug mit der Begründung ab, die Ehe sei nicht bereits vor der Flucht geschlossen worden.

5 Das Verwaltungsgericht hat die insoweit erhobene Klage abgewiesen. Ein Anspruch der Klägerin auf Erteilung eines Visums nach § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sei gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen, weil sie und der Beigeladene zu 2 ihre Ehe nicht bereits vor der Flucht, sondern erst nach Verlassen des Herkunftslandes geschlossen hätten. Die Anwendung des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG stehe in Widerspruch weder zu Unionsrecht noch zu Art. 3 Abs. 1 GG. Eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund liege nicht vor, da eine solche nur in Bezug auf Situationen anzunehmen sei, die ihren Grund unmittelbar in der allgemeinen Lage im Herkunftsland des subsidiär Schutzberechtigten hätten. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Erteilung eines Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, da diese Vorschrift auf den in den §§ 28, 30 und 36a AufenthG abschließend geregelten Nachzug zum subsidiär schutzberechtigten Ehegatten nicht anwendbar sei. Jedenfalls sei die Klägerin als Ehefrau des Beigeladenen zu 2 keine sonstige Familienangehörige im Sinne der Norm. Im Übrigen fehle es an einer außergewöhnlichen Härte. Aus den vorstehenden Erwägungen habe auch der Kläger keinen Anspruch darauf, dass der Klägerin nach den vorstehenden Normen ein Visum zum Familiennachzug erteilt werde.

6 Die Kläger, die im Oktober 2019 bei der Beklagten die Erteilung eines Visums nach § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 22 AufenthG beantragt haben, machen zur Begründung ihrer Sprungrevision unter anderem geltend, die Erteilung eines Visums nach § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sei nicht nach § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen. Der Begriff der Flucht sei weit auszulegen. Jedenfalls sei eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG anzunehmen. Ein Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens über die Erteilung eines Visums stehe der Klägerin auch nach Maßgabe des § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu. Dessen Anwendbarkeit sei hier nicht durch § 36a AufenthG ausgeschlossen. Die Klägerin sei insbesondere sonstige Familienangehörige im Sinne der Norm.

7 Die Beklagte verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts. Insbesondere sei die Erteilung eines Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG durch § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen. Bei der Prüfung einer Ausnahme von der Regelversagung seien zwar auch grund- und menschenrechtliche Belange im Sinne des Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu berücksichtigen; von einem atypischen Ausnahmefall sei indes in Bezug auf die Kläger nicht auszugehen.

8 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich nicht an dem Verfahren.

II

9 Die (Sprung-)Revision ist begründet und führt zur Zurückverweisung. Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat einen Ausschluss des Anspruchs der Klägerin gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG mit einer Begründung angenommen, die mit § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG nicht vereinbar ist. Eine Ausnahme von diesem Regelausschlussgrund kann sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht nur aus Situationen ergeben, die ihren Grund unmittelbar in der allgemeinen Lage im Herkunftsland des subsidiär Schutzberechtigten haben. Der besondere Schutz von Ehe und Familie gebietet es vielmehr, bei der Prüfung eines Ausnahmefalles auch das Interesse an der Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft mit dem subsidiär Schutzberechtigten angemessen zu berücksichtigen (1.). In Ermangelung tatrichterlicher Feststellungen insbesondere zu der objektiven Möglichkeit und der subjektiven Zumutbarkeit einer (Wieder-)Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in Jordanien, aber auch zu den besonderen und allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG ist dem Senat eine abschließende Entscheidung in der Sache (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO) nicht möglich; die Sache ist daher an das Verwaltungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) (1.3). Dieses wird auch darüber zu befinden haben, ob eine Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung eines Visums nach § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 22 Satz 1 AufenthG geboten ist (2.). Die Erteilung eines Visums nach § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auf der Grundlage des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG scheidet hingegen aus (3.).

10 Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 9). Rechtsänderungen, die nach der angefochtenen Entscheidung eintreten, sind vom Revisionsgericht zu berücksichtigen, falls sie das Gericht der Vorinstanz, wenn es jetzt entschiede, zu beachten hätte (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 27.14 - NVwZ 2016, 71 Rn. 10). Abweichendes gilt nur, wenn und soweit aus Gründen des materiellen Rechts ausnahmsweise auf einen anderen Zeitpunkt abzustellen ist, etwa bei einer hier nicht erfolgten Beantragung einer rückwirkenden Verpflichtung oder Neubescheidung. Danach ist über das Begehren der Kläger auf der Grundlage des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 7 des am 12. Dezember 2020 in Kraft getretenen Gesetzes vom 3. Dezember 2020 (BGBl. I S. 2744), zu entscheiden.

11 Gegenstand des Verfahrens ist ausgehend von dem in der Revisionsverhandlung bekräftigten Klageantrag das Begehren, der Klägerin nach Maßgabe des § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ein nationales Visum zum Zwecke des Familiennachzugs zu dem Beigeladenen zu 2 zu erteilen. Die Erteilung richtet sich nach § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften, hier somit nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, § 36a Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 22 Satz 1 und § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.

12 1. Gemäß § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann dem Ehegatten oder dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nach § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 AufenthG liegen humanitäre Gründe im Sinne dieser Vorschrift insbesondere vor, wenn die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist oder ein minderjähriges lediges Kind betroffen ist. Gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG in der Regel ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde. Im Einklang mit § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG geht das Verwaltungsgericht davon aus, der Ausschlussgrund sei in der Regel...

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