Urteil vom 20.07.2017 - BVerwG 2 C 39.16

JurisdictionGermany
Judgment Date20 Julio 2017
Neutral CitationBVerwG 2 C 39.16
Subject MatterBesoldungsrecht
Registration Date13 Diciembre 2017
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Record Number200717U2C39.16.0

BVerwG 2 C 39.16

  • VG Potsdam - 16.10.2013 - AZ: VG 2 K 1292/12
  • OVG Berlin-Brandenburg - 18.06.2015 - AZ: OVG 6 B 29.15

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juli 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung, Dr. Kenntner, Dollinger und Dr. Günther
für Recht erkannt:

  1. Die Klage wird abgewiesen, soweit mit ihr ein Geldausgleich für nicht anderweitig abgegoltene Zuvielarbeit im Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis 31. Januar 2012 geltend gemacht wird. Die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Juni 2015 und des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 16. Oktober 2013 werden aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen.
  2. Im Übrigen (hinsichtlich des Zeitraums vom 1. Februar 2012 bis 16. Oktober 2013) wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg aufgehoben. Insoweit wird die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe I

1 Der Kläger, der im streitgegenständlichen Zeitraum bei der beklagten Stadt als Feuerwehrbeamter im 24-Stunden-Schichtdienst tätig war, begehrt finanziellen Ausgleich für unionsrechtswidrige Zuvielarbeit.

2 Der von dem Kläger im Oktober 2007 beantragten Erhöhung seiner durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit auf bis zu 56 Stunden entsprach die Beklagte durch Bescheid vom 26. Oktober 2007. Den an sie im Januar 2012 gerichteten Antrag des Klägers auf Freizeitausgleich, hilfsweise auf Geldausgleich für die von ihm seit dem Jahr 2003 über 48 Stunden pro Woche hinaus verrichteten Dienstzeiten, lehnte die Beklagte ab. Das Vorverfahren blieb erfolglos.

3 Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Ablehnung des Antrags im Übrigen und teilweiser Aufhebung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, dem Kläger für die im Zeitraum ab Januar 2009 über 48 Stunden pro Woche hinausgehend geleistete Arbeit Geldausgleich nach dem jeweils geltenden Stundensatz für die Mehrarbeitsvergütung zu gewähren. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass es die Beklagte verurteilt hat, an den Kläger für den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis zum 16. Oktober 2013 einen Betrag von 21 784,36 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszins ab Rechtshängigkeit zu zahlen. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, dem Kläger stehe der zugesprochene Geldausgleich infolge des unionsrechtlichen Haftungsanspruchs wegen Verletzung der Arbeitszeitrichtlinie zu. Eine freiwillige Zuvielarbeit bei Überschreitung der unionsrechtlich höchstzulässigen Bezugszeiträume sei auch aufgrund von Ausnahmevorschriften nicht vorgesehen.

4 Hiergegen wendet sich die vom Senat zugelassene Revision der Beklagten, mit der sie beantragt, die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Juni 2015 und des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 16. Oktober 2013 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

5 Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

6 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht unterstützt die Revision der Beklagten.

II

7 Die Revision ist teilweise begründet. Das Berufungsurteil ist aufzuheben. Soweit die Sache nicht vom Senat selbst entschieden werden kann (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), ist sie an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Die Annahmen des Oberverwaltungsgerichts, der unionsrechtliche Haftungsanspruch wegen Zuvielarbeit setze keine erstmalige Geltendmachung durch den Betroffenen voraus und verlange nicht den Nachweis der über die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden hinaus konkret geleisteten Dienststunden, verletzen revisibles Recht. Deshalb ist die Klage abzuweisen, soweit mit ihr finanzieller Ausgleich für nicht anderweitig abgegoltene unionsrechtswidrige Zuvielarbeit im Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis 31. Januar 2012 geltend gemacht wird. Ob sich das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für den verbleibenden streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Februar 2012 bis zum 16. Oktober 2013 aus anderen Gründen im Ergebnis ganz oder teilweise als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO), kann der Senat mangels hierfür ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts nicht entscheiden.

8 In dem Zeitraum ab 2009 liegen die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Haftungsanspruchs gegen die Beklagte, die das vom Land Brandenburg erlassene Recht lediglich anwendet, dem Grunde nach vor (1.). Unionsrecht kann in der Bundesrepublik Deutschland durch Rechtsverordnungen umgesetzt werden (2.). § 4 Abs. 3 der Verordnung über die Arbeitszeit der Beamten des feuerwehrtechnischen Dienstes in den Feuerwehren und den Leitstellen der Landkreise im Land Brandenburg vom 3. August 2007 (AZV Feu, GVBl. II S. 274) und § 21 Abs. 4 der Verordnung über die Arbeitszeit für die Beamten des Polizeivollzugsdienstes, des feuerwehrtechnischen Dienstes und des Justizvollzugsdienstes des Landes Brandenburg vom 16. September 2009 (BbgAZVPFJ, GVBl. II S. 686) setzen Art. 22 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (RL 2003/88/EG) nur unvollständig und damit fehlerhaft um. Sie verletzen offenkundig das in Art. 22 Abs. 1 Buchst. b) RL 2003/88/EG geregelte Verbot, wonach keinem Arbeitnehmer Nachteile daraus entstehen dürfen, dass er nicht bereit ist, mehr als 48 Stunden innerhalb eines Siebentageszeitraums zu arbeiten (3.). Die Anwendung dieses mit Unionsrecht unvereinbaren Landesrechts ist der beklagten Stadt als Dienstherrin der Feuerwehrbeamten anzulasten. Durch die Anwendung des den Vorgaben des Unionsrechts nicht genügenden innerstaatlichen Rechts ist der unionsrechtliche Haftungsanspruch auch gegenüber der Kommune als Dienstherrin begründet (4.). Der Dienstherr muss aber lediglich die rechtswidrige Zuvielarbeit ausgleichen, die der Berechtigte ab dem auf die erstmalige Geltendmachung folgenden Monat geleistet hat. Dies ist im Fall des Klägers erst für die Zeit ab Februar 2012 der Fall (5.). Der noch nicht verfallene Ausgleichsanspruch ist primär auf Ausgleich in Freizeit ausgerichtet. Da diese Form des Ausgleichs aus vom Kläger nicht zu vertretenden Gründen ausscheidet, wandelt sich der Ausgleichsanspruch in einen solchen auf finanziellen Ausgleich (6.). Ob und ggf. inwieweit der Kläger Zuvielarbeit geleistet hat, bestimmt sich mangels einer anderweitigen Regelung durch den nationalen Normgeber nach dem jeweiligen Siebentageszeitraum (7.). Für den Geldausgleich sind die Sätze der Mehrarbeitsvergütung für Beamte maßgeblich. Der finanzielle Ausgleich erfolgt danach nicht pauschal nach der Differenz zwischen der Höchstarbeitszeit und der genehmigten Zuvielarbeit. Er richtet sich vielmehr nach den vom Beamten konkret geleisteten Dienststunden (8.). Die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Verfahren nach Art. 267 AEUV ist nicht veranlasst (9.).

9 1. Die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Haftungsanspruchs gegen die beklagte Stadt, die nicht für die Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie durch den Erlass von Rechtsnormen zuständig ist, sind im Zeitraum ab dem Jahr 2009 dem Grunde nach gegeben. Denn die Beklagte hat die zur Umsetzung von Art. 22 RL 2003/88/EG erlassenen Rechtsverordnungen des Landes Brandenburg angewendet, obwohl für sie erkennbar war, dass diese Umsetzung im Hinblick auf das Nachteilsverbot unzureichend gewesen ist.

10 Der unionsrechtliche Haftungsanspruch setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 25. November 2010 - C-429/09, Fuß - Slg. 2010, I-12167 Rn. 47 f. m.w.N.) voraus, dass die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, die Verleihung von Rechten an die Geschädigten bezweckt (a), zwischen diesem Verstoß und dem den Geschädigten entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht (b) und der Verstoß gegen diese Norm hinreichend qualifiziert ist (c).

11 a) Nach Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet. Diese Vorschrift verleiht dem Einzelnen Rechte, die dieser nach Ablauf der Frist zur Umsetzung der wortgleichen Vorgängerbestimmung des Art. 6 Nr. 2 der RL 1993/104/EG in das Arbeitszeitrecht der Beklagten unmittelbar vor den nationalen Gerichten geltend machen kann (EuGH, Urteil vom 14. Oktober 2010 - C-243/09, Fuß - Slg. 2010, I-9849 Rn. 56 ff.). Auch aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche Rang wie den Verträgen zuerkannt ist (stRspr, zuletzt EuGH, Urteile vom 30. Juni 2016 - C-178/15, Sobczyszyn - NZA 2016, 877 Rn. 20 und vom 11. November 2015 - C-219/14, Greenfield - NZA 2015, 1501 Rn. 27), kann ein Arbeitnehmer keine weitergehenden Schutzrechte herleiten (zum einheitlichen Arbeitnehmerbegriff von Richtlinie und Art. 31 Abs. 2 GrCh: EuGH, Urteil vom 26. März 2015 - C-316/13, Fenoll - NZA 2015, 1444 Rn. 23 ff.). Denn Art. 31 Abs. 2 GrCh, wonach jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer u.a. das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit hat, gewährleistet...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT