Urteil vom 22.11.2022 - BVerwG 3 CN 1.21

JurisdictionGermany
Judgment Date22 Noviembre 2022
Neutral CitationBVerwG 3 CN 1.21
ECLIDE:BVerwG:2022:221122U3CN1.21.0
Record Number221122U3CN1.21.0
CitationBVerwG, Urteil vom 22.11.2022 - 3 CN 1.21 -
Registration Date06 Marzo 2023
Subject MatterGesundheitsverwaltungsrecht einschl. des Rechts der Heilberufe, der Gesundheitsfachberufe und des Krankenhausfinanzierungsrechts sowie des Seuchen- und Infektionsschutzrechts
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesGG Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 Satz 1,IfSG i. d. F. des Gesetzes vom 27. März 2020 § 28 Abs. 1, § 32,IfSG i. d. F. des Gesetzes vom 22. April 2021 § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 7,VwGO § 47 Abs. 2 Satz 1,SächsCoronaSchVO vom 17. April 2020 § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Nr. 1, § 5 Satz 1

BVerwG 3 CN 1.21

  • OVG Bautzen - 15.10.2021 - AZ: 3 C 15/20

In der Normenkontrollsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 9. November 2022
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann, Dr. Gamp
und Hellmann
am 22. November 2022 für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Antragstellers gegen das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2021 wird zurückgewiesen
  2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Gründe I

1 Der Antragsteller wohnt im Freistaat Sachsen. Er begehrt mit seinem Normenkontrollantrag in der Revisionsinstanz die Feststellung, dass § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Nr. 1 sowie § 5 Satz 1 der Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt zum Schutz vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 und COVID-19 (Sächsische Corona-Schutz-Verordnung - SächsCoronaSchVO) vom 17. April 2020 (SächsGVBl. S. 170) unwirksam gewesen sind.

2 Die Verordnung war gestützt auf § 32 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom 20. Juli 2000 in der Fassung des Gesetzes vom 27. März 2020. Sie galt vom 20. April bis 3. Mai 2020 (§ 12 Abs. 1 SächsCoronaSchVO). Die angegriffenen Vorschriften lauteten wie folgt:
§ 2
Kontaktbeschränkung
(1) Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist ausschließlich alleine oder in Begleitung der Partnerin oder des Partners beziehungsweise mit Angehörigen des eigenen Hausstandes oder mit einer weiteren nicht im Hausstand lebenden Person oder zur Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts gestattet.
(2) (...)
§ 4
Betriebsuntersagungen
(1) Folgende Einrichtungen oder Angebote für den Publikumsverkehr dürfen nicht geöffnet werden:
1. Sportstätten, Vereinssport, Fitness- und Sportstudios, Wellnesszentren, Badeanstalten, Saunas und Dampfbäder, Spielplätze,
(...)
§ 5
Gastronomiebetriebe
Gastronomiebetriebe jeder Art sind untersagt. (...) Ausgenommen sind die Abgabe und Lieferung von mitnahmefähigen Speisen (...).

3 Zur Begründung seines am 19. April 2020 anhängig gemachten Normenkontrollantrags hat der Antragsteller vorgetragen, dass den Verordnungsbestimmungen die erforderliche Rechtsgrundlage fehle, weil sie nicht auf § 32 i. V. m. § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden könnten. Zudem verstießen die Maßnahmen gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot. Der Antragsgegner habe nicht dargelegt, dass die Kontaktbeschränkungen sowie die Schließungen von Sportstätten einschließlich Golfplätzen und von Gastronomiebetrieben erforderlich gewesen seien. Die Regelungen seien auch unzumutbar gewesen.

4 Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat den Normenkontrollantrag durch Urteil vom 15. Oktober 2021 abgelehnt: Die angegriffenen Vorschriften seien rechtmäßig gewesen. Sie hätten in § 32 i. V. m. § 28 Abs. 1 IfSG i. d. F. vom 27. März 2020 eine Ermächtigungsgrundlage, die den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG und des verfassungsrechtlichen Wesentlichkeitsgrundsatzes genüge. Die in § 32 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Voraussetzungen für den Erlass von Maßnahmen zur Bekämpfung einer übertragbaren Krankheit hätten vorgelegen. Die in der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung geregelten Ge- und Verbote dienten dem Ziel, eine Verbreitung des Virus SARS-CoV-2 und der Krankheit COVID-19 zu verhindern. Nach der damaligen Risikoeinschätzung des Robert Koch-Instituts (RKI) sei es erforderlich gewesen, physische Kontakte möglichst zu vermeiden, um die Ausbreitung des im Wege einer Tröpfcheninfektion besonders leicht von Mensch zu Mensch übertragbaren Virus und der Krankheit zu verlangsamen. Das RKI habe die Gesundheitsgefährdung durch das Virus SARS-CoV-2 als hoch eingeschätzt. Als nationaler Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen komme seinen Empfehlungen vorrangige Bedeutung zu. Bei den angegriffenen Verordnungsregelungen handele es sich um notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne von § 32 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG. Die Befugnis nach § 28 Abs. 1 IfSG sei nicht auf Maßnahmen gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern begrenzt. Auch Ge- und Verbote, die wie § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Nr. 1 und § 5 Satz 1 SächsCoronaSchVO unabhängig von einem Krankheits- oder Ansteckungsverdacht an jeden gerichtet seien, könnten notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne der Verordnungsermächtigung sein. Die Regelungen hätten nicht unverhältnismäßig in die Grundrechte der Betroffenen eingegriffen. Bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit von Maßnahmen komme dem Verordnungsgeber ein Einschätzungs- und Wertungsspielraum zu, dessen Grenzen hier nicht überschritten seien. Die angeordneten Maßnahmen seien auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Die Rüge des Antragstellers, der Antragsgegner habe den Sachverhalt unzureichend ermittelt, bleibe ohne Erfolg. § 2 Abs. 1 SächsCoronaSchVO sei in Bezug auf die Gestattung des Aufenthalts zur Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts hinreichend bestimmt.

5 Zur Begründung seiner vom Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision macht der Antragsteller im Wesentlichen geltend: Die Verordnungsregelungen ließen sich nicht auf § 32 i. V. m. § 28 Abs. 1 IfSG i. d. F. vom 27. März 2020 stützen. Die Auslegung des Oberverwaltungsgerichts, die Verordnungsermächtigung ermächtige zum Erlass von Maßnahmen auch gegenüber der Allgemeinheit, verstoße gegen den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts und das Bestimmtheitsgebot. Dass § 32 i. V. m. der Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG nicht zu Maßnahmen gegenüber der gesamten Bevölkerung eines Bundeslandes ermächtige, zeige auch die Einfügung von § 28 Abs. 2 IfSG i. d. F. vom 17. Juli 2015, die der Gesetzgeber damit begründet habe, dass Maßnahmen gegen Nichtstörer eine gesonderte Rechtsgrundlage erforderten. Aus der Änderung des § 28 Abs. 1 IfSG durch das Gesetz vom 27. März 2020 ergebe sich kein anderes Auslegungsergebnis. Eine etwaige Übergangs- oder Reaktionszeit des Gesetzgebers, innerhalb derer er auf neue Entwicklungen und Phänomene reagieren und eventuelle Regelungslücken schließen könne, wäre im Zeitpunkt des Erlasses der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung bereits abgelaufen. Zu Unrecht habe das Oberverwaltungsgericht die Verhältnismäßigkeit der Regelungen bejaht. Es habe nicht berücksichtigt, dass jede einzelne wie auch die Gesamtheit der Maßnahmen verhältnismäßig sein müssten. Weil der Verordnungsgeber mit der Verordnung mehrere Ziele verfolgt habe, müsse die Verhältnismäßigkeit zudem bezogen auf jedes Ziel geprüft werden und vorliegen. Diesen Anforderungen werde das angefochtene Urteil nicht gerecht. Des Weiteren habe das Oberverwaltungsgericht die Eingriffsintensität der kontaktbeschränkenden Maßnahmen zu gering gewichtet. Es habe nicht berücksichtigt, dass es sich um geplante Langzeitmaßnahmen gehandelt habe. Seine Annahme, die in § 2 Abs. 1 SächsCoronaSchVO getroffene Regelung zur Wahrnehmung des Umgangsrechts sei hinreichend bestimmt, verstoße gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Es sei unklar gewesen, inwieweit die Gestattung auch Großeltern umfasse. In Bezug auf § 4 Abs. 1 Nr. 1 SächsCoronaSchVO habe das Oberverwaltungsgericht zu Unrecht angenommen, dass die Schließung von Golfplätzen erforderlich gewesen sei. Es hätte genügt, ihre Nutzungsmöglichkeit auf den Außenbereich zu beschränken und gegebenenfalls eine Maskenpflicht und Begrenzung der Nutzerzahl vorzusehen. Entsprechendes gelte für § 5 Satz 1 SächsCoronaSchVO. Als gleich wirksame, jedoch weniger eingriffsintensive Maßnahme hätte der Antragsgegner die Beschränkung des Gastronomiebetriebs auf den Außenbereich, ein Alkoholausschankverbot sowie eine Begrenzung der Gästezahl anordnen können. Das angefochtene Urteil beruhe außerdem auf Verfahrensmängeln. Das Oberverwaltungsgericht habe gegen die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verstoßen, weil es seinen Beweisanträgen nicht entsprochen habe.

6 Der Antragsgegner tritt den Verfahrensrügen entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil.

II

7 Die zulässige Revision des Antragstellers ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil beruht nicht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Ablehnung des zulässigen (1.) Normenkontrollantrags durch das Oberverwaltungsgericht steht mit Bundesrecht im Einklang. Die angegriffenen Regelungen der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020 hatten eine Rechtsgrundlage im Infektionsschutzgesetz (2.), die verfassungsgemäß war (3.). Sie waren auf der Grundlage der im Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen und der Auslegung des Landesrechts verhältnismäßig (4.). Das Oberverwaltungsgericht hat auch ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG angenommen, dass § 2 Abs. 1 SächsCoronaSchVO hinreichend bestimmt war (5.).

8 1. Der gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO statthafte Normenkontrollantrag ist zulässig. Dass die angegriffenen Rechtsvorschriften außer Kraft getreten sind, hat ihn nicht unzulässig gemacht.

9 a) Gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann den Normenkontrollantrag jede natürliche oder juristische Person stellen, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Zwar geht § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO vom Regelfall der noch geltenden Rechtsvorschrift aus (vgl. auch § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Ist die...

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