Urteil vom 24.01.2024 - BVerwG 6 C 4.22

JurisdictionGermany
Judgment Date24 Enero 2024
Neutral CitationBVerwG 6 C 4.22
ECLIDE:BVerwG:2024:240124U6C4.22.0
Record Number240124U6C4.22.0
CitationBVerwG, Urteil vom 24.01.2024 - 6 C 4.22 -
Registration Date19 Marzo 2024
Subject MatterPolizei- und Ordnungsrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesGG Art. 31, 74 Abs. 1 Nr. 1,OWiG § 107 Abs. 5,ThürVwKostG § 1 Abs. 3 Satz 1

BVerwG 6 C 4.22

  • VG Weimar - 21.09.2017 - AZ: 1 K 1104/15 We
  • OVG Weimar - 20.10.2021 - AZ: 3 KO 120/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller, Hahn und Dr. Tegethoff sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gamp
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 20. Oktober 2021 aufgehoben
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten
Gründe I

1 Die Klägerin, eine für eine Versicherung tätige Rechtsanwältin, wehrt sich gegen den Teilbetrag in Höhe von 3,50 Euro, den der Beklagte für die Erstellung von Kopien aus einer polizeilichen Unfallakte geltend macht.

2 Sie beantragte bei der Polizeiinspektion S. Einsicht in eine Verkehrsunfallakte mit Blick auf eine mögliche Eintrittspflicht zur Schadenregulierung. Die Akte enthielt im Wesentlichen Daten, die nach einem Verkehrsunfall eines bei der Mandantin der Klägerin versicherten Kradfahrers aufgenommen worden waren. Bei dem Unfall, der sich ohne Fremdeinwirkung auf einer Landesstraße ereignet hatte, war der Kradfahrer nach Aussagen von Unfallzeugen mit angemessener Geschwindigkeit gefahren, in einer Rechtskurve von der Fahrbahn abgekommen und in einem Getreidefeld schwer verletzt liegen geblieben. Hinweise auf Drogen- oder Alkoholkonsum waren nicht erkennbar. Im polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystem des Beklagten ist der Vermerk "Keine Folgemaßnahmen" enthalten.

3 Der Beklagte übersandte der Klägerin Kopien aus dem Polizeirechnersystem und machte hierfür mit Kostenbescheid vom 13. Oktober 2015 Gebühren in Höhe von 12,00 Euro und Auslagen in Höhe von 3,50 Euro für sieben Kopien, insgesamt also 15,50 Euro geltend.

4 Auf die Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 21. September 2017 den Bescheid antragsgemäß insoweit aufgehoben, als er einen Betrag von 12,00 Euro übersteigt. Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 20. Oktober 2021 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, das vom Beklagten herangezogene Thüringer Verwaltungskostengesetz in Verbindung mit der hierzu erlassenen Thüringer Allgemeinen Verwaltungskostenordnung komme als Rechtsgrundlage für den Kostenbescheid nicht in Betracht. Vorrangig anwendbar sei gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 Thüringer Verwaltungskostengesetz (ThürVwKostG) § 107 Abs. 5 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG). Dieser sehe eine Aktenversendungspauschale in Höhe von 12,00 Euro vor. Die Polizeiinspektion habe die Akte jedenfalls auch zur Prüfung des Vorliegens von Ordnungswidrigkeiten erstellt. Zwar habe es keine Anzeichen für eine überhöhte Geschwindigkeit oder für einen Alkohol- oder Drogenkonsum des verletzten Kradfahrers gegeben. Auch seien weder ein strafrechtliches Ermittlungs- noch ein Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet worden. Es bestehe jedoch kein Grund zu der Annahme, dass die Entscheidung über die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens selbst in einfach gelagerten Fällen abschließend am Unfall getroffen werde und erstellte Unterlagen wie Anzeige, Unfallskizze und Bilddokumentation dann nur anderen Zwecken dienen sollten. Ein Anfangsverdacht zumindest eines Verstoßes gegen § 49 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 2 StVO werde erst nach einer Auswertung der Unfalldokumentation auszuschließen sein. Dies ergebe sich nicht nur aus einer lebensnahen Betrachtung, sondern folge auch aus der Richtlinie des Thüringer Ministeriums für Inneres und Kommunales über die Aufgaben der Thüringer Polizei bei Straßenverkehrsunfällen vom 1. Januar 2017. Danach werde die Verkehrsunfallakte generell bei Unfällen mit Personenschaden jedenfalls auch zur späteren Prüfung des Vorliegens von Ordnungswidrigkeiten erstellt. Der Charakter der angelegten Akte ändere sich nicht, wenn ein Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren letztlich nicht eingeleitet werde. Die Aktenversendungspauschale für das Bußgeldverfahren gelte nach § 107 Abs. 5 OWiG auch für die Akteneinsicht eines Dritten, ohne dass es auf die Entscheidung über die Einleitung eines Bußgeldverfahrens ankomme. Die Auslegung des § 107 Abs. 5 OWiG, wonach es in Bezug auf die Kostenerhebung für die Aktenversendung unerheblich sei, ob ein tatsächlicher Zusammenhang mit einem Bußgeldverfahren zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten bestehe, führe nicht dazu, dass die Vorschrift nicht mehr von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes gedeckt wäre. Soweit die Akten jedenfalls auch der Prüfung der Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens zu dienen bestimmt seien, bestehe vielmehr ein auch kompetenzrechtlich ausreichender Zusammenhang zum Ordnungswidrigkeitenverfahren als Teil des Strafrechts im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.

5 Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Revision macht der Beklagte geltend: Der Anwendungsbereich des § 107 Abs. 5 OWiG sei nicht eröffnet. Die der Aufklärung und der Vorbereitung einer Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße gegen den Betroffenen dienende Einleitung des Vorverfahrens gemäß §§ 53 ff. OWiG setze einen Anfangsverdacht voraus. Konkrete Tatsachen, die auf die Verwirklichung eines Bußgeldtatbestandes hindeuten, hätten hier nicht vorgelegen. Auf die potentielle Eignung einer Verwaltungsakte zur Prüfung des Vorliegens einer Ordnungswidrigkeit könne nach dem Gesetzeswortlaut nicht abgestellt werden. Für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Ordnungswidrigkeitengesetzes könne auch nicht die Regelung in einer Verwaltungsvorschrift - hier der Richtlinie des Thüringer...

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