Urteil vom 24.05.2022 - BVerwG 6 C 9.20

JurisdictionGermany
Judgment Date24 Mayo 2022
Neutral CitationBVerwG 6 C 9.20
ECLIDE:BVerwG:2022:240522U6C9.20.0
Subject MatterVersammlungsrecht
Registration Date11 Julio 2022
CitationBVerwG, Urteil vom 24.05.2022 - 6 C 9.20 -
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesGG Art. 8,VersammlG § 1 Abs. 1, §§ 14, 15 Abs. 1,VwGO §§ 43, 113 Abs. 1 Satz 4
Record Number240522U6C9.20.0

BVerwG 6 C 9.20

  • VG Aachen - 04.07.2018 - AZ: VG 6 K 1117/18
  • OVG Münster - 16.06.2020 - AZ: OVG 15 A 3138/18

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. Mai 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller, Hahn und Dr. Tegethoff sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gamp
für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Beklagten gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juni 2020 wird zurückgewiesen
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Gründe I

1 Die Beteiligten streiten um die Frage, ob ein landwirtschaftliches Grundstück, das während des "Klimacamps 2017" im rheinischen Braunkohlerevier für Schlafzelte von Campteilnehmern und für Sanitäreinrichtungen genutzt wurde, dem Klimacamp als durch Art. 8 GG geschützte Versammlung zuzurechnen war und in den Anwendungsbereich des (Bundes-)Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz - VersammlG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. November 1978 (BGBl. I S. 1789) fiel, das zur entscheidungserheblichen Zeit in Nordrhein-Westfalen gemäß Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG fortgalt und zuletzt durch Gesetz vom 8. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2366) geändert worden war.

2 Die Klägerin meldete mit Schreiben vom 24. Juli und 7. August 2017 das Klimacamp als öffentliche Versammlung unter freiem Himmel nach § 14 VersammlG bei dem Polizeipräsidium Aachen als Versammlungsbehörde an. Das Camp finde in der Zeit vom 18. bis 29. August 2017 auf einer Wiese im Norden des bei B. gelegenen ... statt. Die Versammlungsteilnehmer brächten durch ihren mehrtägigen Aufenthalt vor Ort ihren persönlichen und gemeinschaftlichen Protest gegen die Zerstörung von gewachsenen Ortschaften sowie von Umwelt und Klima durch den Abbau und die Verstromung von Braunkohle zum Ausdruck. Sie lebten über mehrere Tage eine basisdemokratische und umweltverträgliche Art des Miteinanders als Gegenentwurf zu der herrschenden zerstörerischen Verwertungslogik praktisch vor. Die "..." mit diversen Teilnahmeformaten sei Teil der Versammlung. Die Zahl der teilnehmenden Personen werde schwanken, sich aber auf höchstens 6 000 gleichzeitig Anwesende belaufen. Es würden Zirkuszelte, Feldküchen, Versorgungs- und Veranstaltungszelte, eine Bühne, eine Lautsprecheranlage, Generatoren und Komposttoiletten aufgestellt. Ferner werde Platz für als Schlafgelegenheit dienende Zelte der Teilnehmer und für Sanitäranlagen vorgehalten.

3 Mit Verfügung vom 14. August 2017 bestätigte das Polizeipräsidium Aachen das Klimacamp "vorsorglich" als Versammlung, wobei es sich auf den von dem Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 28. Juni 2017 - 1 BvR 1387/17 - (NVwZ 2017, 1374) gewährten Eilrechtsschutz für ein sog. Protestcamp während des G 20-Gipfels im Sommer 2017 in Hamburg bezog. Durch eine auf § 15 Abs. 1 VersammlG gestützte Auflage untersagte es die Durchführung auf der in der Anmeldung genannten Wiese und wies der Klägerin stattdessen eine ehemalige Kiesgrube sowie einen Sportplatz in E. als Versammlungsort zu. Nachdem die Klägerin das landwirtschaftliche Grundstück Flurstück 55, Flur ..., Gemarkung E.-K. (im Folgenden: Flurstück 55) gemietet hatte, erklärte sie mit Schreiben vom 18. August 2017, dass das Klimacamp auf dieser Fläche sowie auf dem benachbarten Sportplatz in E. stattfinde. Mit Verfügung vom 18. August 2017 änderte das Polizeipräsidium Aachen die unter dem 14. August 2017 erlassene Ortsauflage ab und wies der Klägerin nunmehr das Flurstück 55 und den Sportplatz in E. als Versammlungsflächen zu. Auf dem Sportplatz dürften Versammlungsteilnehmer ihre Schlafzelte errichten.

4 Nachdem der Sportplatz in E. mit Schlafzelten von Campteilnehmern belegt war, gab die Klägerin intern ein weiteres von ihr angemietetes landwirtschaftliches Grundstück - das in einer Entfernung von 800 Metern zu dem Flurstück 55 gelegene Flurstück 65, Flur ..., Gemarkung E.-K. (im Folgenden: Flurstück 65) – als zusätzliche Fläche für das Aufstellen von Schlafzelten und von Sanitäreinrichtungen frei. Mit Schreiben vom 22. August 2017 teilte sie dem Polizeipräsidium Aachen mit, das Flurstück 65 sei Teil des Klimacamps. Hierauf erließ das Polizeipräsidium am gleichen Tag eine Verfügung, mit der es das Flurstück 65 als Versammlungsfläche ablehnte. Aus versammlungsrechtlicher Sicht bestehe keine rechtliche Grundlage dafür, die Fläche, auf der faktisch keine Versammlung durchgeführt werde, auf der vielmehr Schlafzelte und Sanitäranlagen aufgestellt seien und die im Unterschied zu dem in gleicher Weise genutzten Sportplatz in E. nicht im Eigentum der öffentlichen Hand stehe, dem (vorsorglich) als Versammlung bewerteten Klimacamp zugehörig zu erklären.

5 Am 14. März 2018 hat die Klägerin Klage auf Feststellung erhoben, dass die Verfügung des Polizeipräsidiums Aachen vom 22. August 2017 rechtswidrig gewesen sei, soweit darin das Flurstück 65 als Versammlungsfläche abgelehnt worden sei. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht in der Form eines Beschlusses nach § 130a VwGO das erstinstanzliche Urteil geändert und die von der Klägerin begehrte Feststellung getroffen. Die Klage sei als Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO zulässig. Das erforderliche Feststellungsinteresse bestehe unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr. Die Klage sei begründet, weil das Flurstück 65 auf Grund seiner Nutzung in der gegebenen Versammlungssituation unmittelbar - also auch nicht nur im Wege einer Vorwirkung - von dem Schutz durch Art. 8 GG umfasst und das Versammlungsgesetz anwendbar gewesen sei. Für das Klimacamp als solches mit dem Flurstück 55 als zentralem Veranstaltungsgelände sei der Schutzbereich des Art. 8 GG eröffnet gewesen. Die in dem Camp in der Nähe des Braunkohletagebaus G. zusammengekommenen Personen hätten nach den Angaben der Klägerin in Bezug auf die Themen des Klimaschutzes sowie der Energiegewinnung und Energieversorgung kollektiv auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken wollen. Dem habe nicht entgegengestanden, dass das Klimacamp als Dauerveranstaltung konzipiert gewesen sei. Die in das Camp integrierten Veranstaltungen der "..." hätten überwiegend einen engen thematischen Bezug zu dem Gegenstand des Klimacamps aufgewiesen und dessen Versammlungseigenschaft nach dem Gesamtgepräge nicht entfallen lassen. Die Versammlungsqualität des Klimacamps habe sich auf die Übernachtungsfläche auf dem Flurstück 65 als infrastrukturelle Begleiteinrichtung des Camps erstreckt. Infrastrukturelle Ergänzungen einer Versammlung seien dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit unmittelbar zuzuordnen, wenn sie nach dem an einem objektiven Maßstab gemessenen Vorbringen der Veranstalter zur Verwirklichung des Versammlungszwecks funktional, symbolisch oder konzeptionell im Sinne der konkreten kollektiven Meinungskundgabe notwendig seien. Diese Voraussetzung sei in Bezug auf das Klimacamp durch die Nutzung des Flurstücks 65 in Gestalt der Schlafzelte von Versammlungsteilnehmern und Sanitäranlagen und damit auch durch das Flurstück 65 als solches erfüllt gewesen. Die Möglichkeit der Teilnahme an dem Camp als Dauerversammlung habe wegen dessen Veranstaltung in der ländlichen Region des rheinischen Braunkohletagebaus, in der alternative Übernachtungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung gestanden hätten, von einer temporär einzurichtenden Infrastruktur abgehangen. Diese infrastrukturelle Funktion habe neben dem Sportplatz in E. das ca. 800 Meter von dem Flurstück 55 als zentraler Veranstaltungsfläche entfernte, fußläufig erreichbare und deshalb dem Klimacamp auch in räumlicher Hinsicht zuzuordnende Flurstück 65 erfüllt, indem es den Versammlungsteilnehmern eine Übernachtungsgelegenheit geboten habe. Es habe eine konzeptionelle, inhaltliche und räumlich-funktionale Verknüpfung des Flurstücks 65 mit der Versammlung in dem Sinne bestanden, dass diese ohne die zusätzliche Übernachtungsfläche auf dem Flurstück 65 nicht hätte stattfinden können. Ein weitergehender thematisch-konzeptioneller Bezug sei nicht erforderlich gewesen. Insbesondere sei unschädlich, dass auf der Übernachtungsfläche selbst keine Meinungskundgabe stattgefunden habe. Auch komme es nach diesem Sachverhalt auf weitere Protestaktionen in Gestalt von Mahnwachen in unmittelbarer Nähe des Braunkohletagebaus nicht an.

6 Der Beklagte begehrt mit seiner von dem Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen klageabweisenden Urteils. Er verweist auf die räumliche Distanz zwischen der...

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