Urteil vom 24.05.2023 - BVerwG 9 CN 1.22

JurisdictionGermany
Judgment Date24 Mayo 2023
Neutral CitationBVerwG 9 CN 1.22
ECLIDE:BVerwG:2023:240523U9CN1.22.0
Record Number240523U9CN1.22.0
CitationBVerwG, Urteil vom 24.05.2023 - 9 CN 1.22 -
Registration Date09 Agosto 2023
Subject MatterSonstiges Abgabenrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesGG Art. 3 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2a Satz 1,KrWG §§ 6, 10, 24, 33, 46,VerpackG §§ 1, 2 Abs. 5, §§ 7, 33 f.,KAG BW § 9 Abs. 4,EU-Einwegkunststoffrichtlinie

BVerwG 9 CN 1.22

  • VGH Mannheim - 29.03.2022 - AZ: 2 S 3814/20

In der Normenkontrollsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. Mai 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler, Dr. Martini und
Dr. Dieterich sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. Schübel-Pfister
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 29. März 2022 wird geändert
  2. § 4 Abs. 2 und § 8 der Satzung der Universitätsstadt Tübingen über die Erhebung einer Verpackungssteuer (Verpackungssteuersatzung) vom 30. Januar 2020 in der Fassung der Änderungssatzung vom 27. Juli 2020 werden für unwirksam erklärt
  3. Im Übrigen wird der Normenkontrollantrag der Antragstellerin abgelehnt
  4. Die weitergehende Revision der Antragsgegnerin wird zurückgewiesen
  5. Die Antragstellerin trägt 9/10, die Antragsgegnerin 1/10 der Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen
Gründe I

1 Die Antragstellerin ist Inhaberin eines im Stadtgebiet der Antragsgegnerin gelegenen Schnellrestaurants mit Drive-in-Schalter, das sie selbständig und auf eigene Rechnung betreibt. Sie wendet sich im Wege der Normenkontrolle gegen die Verpackungssteuersatzung der Antragsgegnerin. Deren Gemeinderat beschloss in seiner Sitzung vom 30. Januar 2020 den Erlass einer Satzung über die Erhebung einer Verpackungssteuer (Verpackungssteuersatzung), die ursprünglich am 1. Januar 2021 in Kraft treten sollte (im Folgenden auch: "Satzung" oder "VStS"). Mit Änderungsbeschluss vom 27. Juli 2020 wurde das Inkrafttreten auf den 1. Januar 2022 verschoben. Durch die auf Einwegverpackungen unabhängig von ihrer stofflichen Zusammensetzung erhobene Steuer sollen Einnahmen für den städtischen Haushalt erzielt, die Verunreinigung des Stadtbilds durch im öffentlichen Raum entsorgte Verpackungen verringert und ein Anreiz zur Verwendung von Mehrwegsystemen gesetzt werden.

2 § 1 der Satzung ("Steuererhebung, Steuergegenstand") lautet:
"(1) Die Universitätsstadt Tübingen erhebt nach Maßgabe der folgenden Vorschriften auf nicht wiederverwendbare Verpackungen (Einwegverpackungen) und nicht wiederverwendbares Geschirr (Einweggeschirr) sowie auf nicht wiederverwendbares Besteck (Einwegbesteck) eine Steuer, sofern Speisen und Getränke darin bzw. damit für den unmittelbaren Verzehr an Ort und Stelle oder als mitnehmbares take-away-Gericht verkauft werden (z. B. warme Speisen und Getränke, Eis von der Eisdiele, Salat mit Soße und Besteck, Getränke 'to go').
(2) Nicht wiederverwendbar im Sinne von Abs. 1 sind insbesondere Einwegverpackungen (wie z. B. Einwegdosen, -flaschen, -becher und sonstige Einwegbehältnisse), Einweggeschirr (Essgeschirr ohne Essbesteck) und Einwegbesteck (wie z. B. Messer, Gabel, Löffel), die keiner Pfandpflicht unterliegen. Einwegverpackungen, -geschirr und -besteck sind dazu bestimmt, nur einmal oder nur kurzzeitig für den unmittelbaren Verzehr von Speisen und Getränken verwendet zu werden (wie z. B. Fast-Food-Verpackungen oder Boxen für Mahlzeiten, Sandwiches, Salat oder sonstige Lebensmittel oder Getränkebehälter)."

3 § 2 bestimmt als Steuerschuldner die Endverkäufer der besagten Speisen und Getränke; § 3 regelt Steuerbefreiungen für bestimmte Steuergegenstände. Nach § 4 Abs. 1 beträgt der Steuersatz 0,50 € für jede Einweggetränke- und Einweglebensmittelverpackung und 0,20 € für Einwegbesteck; der Steuersatz pro Einzelmahlzeit ist nach § 4 Abs. 2 auf maximal 1,50 € begrenzt. Die §§ 5 bis 7 enthalten Regelungen über Entstehung, Festsetzung und Fälligkeit, über die Vorauszahlung sowie über Aufbewahrungs- und Aufzeichnungspflichten. § 8 sieht im Rahmen der Steueraufsicht ein Betretungsrecht der Stadtverwaltung für die Geschäftsräume der Steuerschuldner vor. Ergänzend hat die Verwaltung der Antragsgegnerin "Auslegungshinweise" zur Verpackungssteuersatzung (Stand Oktober 2021) erlassen, welche die konkrete Handhabung der neuen Besteuerung in der Praxis erleichtern sollen.

4 Auf den Normenkontrollantrag der Antragstellerin vom 27. November 2020 erklärte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die Verpackungssteuersatzung mit Urteil vom 29. März 2022 für unwirksam. Zur Begründung führte er aus, es liege keine örtliche Verbrauchsteuer im Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG vor, soweit die Satzung die Besteuerung von take-away-Einwegverpackungen vorsehe. Ein Verbleib und Verzehr der darin enthaltenen Gerichte und Getränke sowie ein Verbrauch der Verpackung im Gemeindegebiet seien nicht gewährleistet. Dies führe zur Gesamtunwirksamkeit der Satzung. Zudem stehe die Verpackungssteuer in ihrer Ausgestaltung als Lenkungssteuer im Widerspruch zum Abfallrecht des Bundes; sie widerspreche dem Gesamtkonzept sowie Einzelvorgaben namentlich des Kreislaufwirtschaftsgesetzes und des Verpackungsgesetzes. Die dortigen bundesrechtlichen Regelungen seien abschließend und ließen keinen Raum für kommunale Zusatzregelungen. Der die Obergrenze der Besteuerung definierende Begriff der "Einzelmahlzeit" in § 4 Abs. 2 der Satzung sei nicht ausreichend vollzugsfähig und verstoße damit gegen den Grundsatz der Belastungsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die übrigen im Normenkontrollantrag aufgeworfenen Fragen bedürften daher keiner Entscheidung.

5 Mit ihrer vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision macht die Antragsgegnerin geltend, die Verpackungssteuer sei, soweit sie "take-away"-Einwegverpackungen betreffe, eher als Aufwandsteuer zu qualifizieren, da mit Einwegverpackungen höhere Flexibilität und Bequemlichkeit gewährt würden. Örtlicher Bezug sei daher der Erwerbsvorgang im Gemeindegebiet und nicht der Ort des Verzehrs der Ware; ggf. sei eine verfassungskonforme geltungserhaltende Auslegung oder eine Lösung über die gemeindlichen Auslegungshinweise möglich. Der angenommene Widerspruch zum Abfallrecht des Bundes bestehe nicht. Der Verwaltungsgerichtshof lege einen zu strengen Maßstab bei der Betrachtung des Abfallrechts und bei der Prüfung der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung an. Zudem habe er die geänderte abfallrechtliche Rechtslage seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Kasseler Verpackungssteuer aus dem Jahr 1998 verkannt. Die Begrenzung des Steuersatzes gemäß § 4 Abs. 2 sei vollzugsfähig und insgesamt nicht zu beanstanden.

6 Die Antragsgegnerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 29. März 2022 aufzuheben und den Normenkontrollantrag abzulehnen.

7 Die Antragstellerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8 Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung und vertieft ihre Rügen aus dem Normenkontrollverfahren.

9 Die Vertreterin des Bundesinteresses beteiligt sich nicht am Verfahren.

II

10 Die zulässige Revision der Antragsgegnerin ist weitgehend begründet. Der Verwaltungsgerichtshof hat dem Normenkontrollantrag zu Unrecht vollumfänglich stattgegeben. Seine Annahme, die Verpackungssteuersatzung verstoße aus mehreren, selbständig tragenden Gründen insgesamt gegen höherrangiges Recht, steht mit Bundesrecht nicht im Einklang (1.). Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar, weil die übrigen, im Normenkontrollurteil nicht erörterten Rügen gegen die Satzung ebenfalls nicht oder nur partiell durchgreifen und nur zur Teilunwirksamkeit der Satzung führen (2.).

11 1. Die vom Verwaltungsgerichtshof geprüften Vorschriften der Verpackungssteuersatzung erweisen sich mit nur einer Ausnahme als rechtmäßig. Bei der Verpackungssteuer in der vorliegenden Ausgestaltung handelt es sich um eine örtliche Verbrauchsteuer, die von der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG gedeckt ist (a). Die Kompetenzausübungsschranke der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung steht dem zumindest beim gegenwärtigen Stand des Abfallrechts nicht entgegen (b). Die vom Normenkontrollgericht zutreffend festgestellte Rechtswidrigkeit des § 4 Abs. 2 VStS zur Obergrenze der Besteuerung lässt die Wirksamkeit der Satzung im Übrigen unberührt (c).

12 a) Die Antragsgegnerin war für den Erlass der angegriffenen Satzung zuständig, weil die Verpackungssteuer eine örtliche Verbrauchsteuer im Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG ist, die nach § 9 Abs. 4 KAG BW von den Gemeinden erhoben werden kann.

13 aa) Wie der Verwaltungsgerichtshof in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zu Recht annimmt, stellt die Verpackungssteuer eine Verbrauchsteuer und keine Aufwandsteuer dar.

14 (1) Verbrauchsteuern sind Warensteuern, die den Verbrauch vertretbarer, regelmäßig zum baldigen Verzehr oder kurzfristigen Verbrauch bestimmter Güter des ständigen Bedarfs belasten (BVerfG, Urteil vom 7. Mai 1998 - 2 BvR 1991, 2004/95 - BVerfGE 98, 106 <123 f.> m. w. N.). Als indirekte Steuern werden sie zwar auf der Ebene des Verteilers oder Herstellers des verbrauchsteuerbaren Gutes erhoben; sie sind aber auf eine Überwälzung auf den privaten Endverbraucher angelegt, dessen - in der Einkommensverwendung zu Tage tretende - wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sie abschöpfen sollen (vgl. zur Kernbrennstoffsteuer als einer überörtlichen Verbrauchsteuer BVerfG, Beschluss vom 13. April 2017 - 2 BvL 6/13 - BVerfGE 145, 171 Rn. 119 m. w. N.). Ein Verbrauch ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn der Besteuerungsgegenstand nach Abschluss des konkreten Verwendungsvorgangs gemäß dem Sinn und Zweck des Gesetzes verbrauchsteuerrechtlich als nicht mehr existent angesehen oder...

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