Urteil vom 25.10.2017 - BVerwG 6 C 46.16

JurisdictionGermany
Judgment Date25 Octubre 2017
Neutral CitationBVerwG 6 C 46.16
ECLIDE:BVerwG:2017:251017U6C46.16.0
Applied RulesGG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 8, Art. 19 Abs. 4, Art. 35 Abs. 1, Art. 87a Abs. 2, Art. 125a Abs. 1 Satz 1,VersammlG § 12a Abs. 1, § 19a,VwVfG § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 24 Abs. 1 Satz 1,SOG M-V § 13,VwGO § 43
Registration Date10 Enero 2018
Record Number251017U6C46.16.0
Subject MatterPolizei- und Ordnungsrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
CitationBVerwG, Urteil vom 25.10.2017 - 6 C 46.16

BVerwG 6 C 46.16

  • VG Schwerin - 29.09.2011 - AZ: VG 1 A 1180/07
  • OVG Greifswald - 15.07.2015 - AZ: OVG 3 L 9/12

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 25. Oktober 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz, Dr. Möller, Hahn und Dr. Tegethoff
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 15. Juli 2015, berichtigt durch Beschluss vom 2. Dezember 2015, aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe I

1 Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass sie durch den im Vorfeld einer Versammlung zu Aufklärungszwecken durchgeführten Tiefflug eines Kampfflugzeugs der Bundeswehr in ihren Rechten verletzt worden ist.

2 Vom 6. bis 8. Juni 2007 fand in Heiligendamm das jährliche Gipfeltreffen der acht großen Industriestaaten (G8) statt. Im Vorfeld beantragte das Innenministerium des beklagten Landes beim Bundesministerium der Verteidigung, im Wege der Amtshilfe Überflüge in der Umgebung des Austragungsortes durchzuführen. Es sollten unter Einsatz von Infrarot- und optischen Kameras Luftbildaufnahmen angefertigt werden, um mögliche Erddepots zu erkennen sowie etwaige Manipulationen an wichtigen Straßenzügen zu erfassen. In Abstimmung mit dem Beklagten führte die Bundeswehr im Mai 2007 mehrere Aufklärungsflüge durch. Ein weiterer Überflug wurde nach erneuter Lagebeurteilung vereinbart, nachdem es am 2. Juni 2007 in Rostock zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen war.

3 Ab dem 29. Mai 2007 errichteten Gegner des Gipfeltreffens in der Gemeinde Reddelich ein Camp für die Unterkunft von bis zu 5 000 Personen, die an Protestaktionen teilnehmen wollten. Die Klägerin hielt sich vom 1. bis 6. Juni 2007 in dem Camp auf und nahm von dort aus an Veranstaltungen und Versammlungen im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm teil.

4 Am 5. Juni 2007 überflog ein Kampfflugzeug der Bundeswehr vom Typ Tornado gegen 10:30 Uhr das Camp witterungsbedingt in einer Höhe von ca. 114 m. Während des Überfluges wurden Aufnahmen durch Kameras angefertigt, die an dem Kampfflugzeug befestigt waren. 19 Luftbilder wurden anschließend durch Bundeswehrmitarbeiter als für polizeiliche Zwecke relevant ausgewählt und an die Polizeidirektion Rostock zur Auswertung übermittelt. Bei einem Teil dieser Aufnahmen handelte es sich um Übersichtsaufnahmen und Ausschnittvergrößerungen, auf denen das Camp Reddelich sowie Personengruppen abgebildet waren, die sich dort aufhielten.

5 Die Klägerin hat mit der Klage die Feststellung begehrt, dass sie durch den Überflug des Camps Reddelich am 5. Juni 2007 durch ein Kampfflugzeug der Bundeswehr des Typs Tornado sowie die Fertigung und anschließende Weitergabe und Verwendung von Bildaufnahmen in ihren Rechten verletzt wurde. Die Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Oberverwaltungsgericht hat die Feststellungsklage zwar für zulässig, jedoch nicht für begründet gehalten. Die Klägerin könne sich auf ihr Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG stützen, das auch einen Vorfeldschutz entfalte. Bei der beabsichtigten Teilnahme an Demonstrationen über mehrere Tage aufgrund einer ebenfalls mehrtägigen politischen bzw. staatlichen Veranstaltung sei der dauernde Aufenthalt in einer Unterkunft geschützt, insbesondere, wenn er in einem für diesen Zweck hergerichteten Camp stattfinde. In der Sache könne die Klage keinen Erfolg haben, weil in den beanstandeten Maßnahmen kein Eingriff in Grundrechte der Klägerin liege. Für einen Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit genüge es, wenn eine Maßnahme auf eine Abschreckung von der Teilnahme an einer späteren Versammlung abgezielt habe, hierfür objektiv geeignet gewesen sei und der potentielle Teilnehmer sich habe abschrecken lassen dürfen, wobei es nicht auf die subjektive Empfindung eines konkret betroffenen Einzelnen ankomme, sondern auf die eines sog. verständigen Dritten. An diesen Voraussetzungen fehle es hier. Ein verständiger Dritter habe den Überflug zwar dahingehend verstehen dürfen, dass Aufklärungsmaßnahmen im Hinblick auf den bevorstehenden Beginn des G8-Gipfels am Folgetag betrieben werden sollten. Schon wegen der kurzen Dauer des Überflugs hätten diese Aufklärungsmaßnahmen jedoch nicht derart abschreckend auf einen verständigen Dritten gewirkt, dass er sich davon hätte abhalten lassen, sein Versammlungsrecht wahrzunehmen. Auch wenn der Überflug als polizeitaktische Machtdemonstration ("show of force") gewertet werde, sei davon keine Abschreckungswirkung ausgegangen, weil das Tornado-Kampfflugzeug nicht als Einsatzmittel für einen Kampfeinsatz gezeigt worden sei. Ebenso wenig sei eine solche Wirkung bei verständiger Würdigung von dem Anfertigen von Lichtbildern bei dem Überflug ausgegangen. Aufgrund der Kurzzeitigkeit habe es sich nur um eine Momentaufnahme handeln können. Zudem sei den Bewohnern des Camps Reddelich bekannt gewesen, dass sie angesichts der Besonderheiten des Einzelfalles des G8-Gipfeltreffens und der zahlreichen, auch gewalttätigen Aktionen der Gegner dieses Gipfeltreffens unter besonderer Beobachtung der Sicherheitsbehörden standen. Da die Klägerin auf den Lichtbildern selbst nicht erkennbar sei, verletze schließlich auch die Auswertung der Aufnahmen sie nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 8 GG. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte oder die Bundeswehr die flächendeckenden Übersichtsaufnahmen oder die Ausschnittvergrößerungen noch derartig auswerten könnten, dass eine Personenidentifizierung möglich sei. Aus diesen Gründen sei auch das Grundrecht der Klägerin auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG nicht verletzt.

6 Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die vom Senat zugelassene Revision eingelegt, mit der sie geltend macht: Ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit liege bereits bei polizeilichen Maßnahmen vor, welche während oder im Vorfeld von Versammlungen bei den Betroffenen den Eindruck einer möglichen Aufzeichnung ihres Verhaltens erzeugen könnten. Unter den heutigen technischen Bedingungen bestehe eine Vermutung, dass Überwachungsmaßnahmen wie die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen zur Identifizierung von Personen geeignet seien. Dass diese Vermutung bei überlegenem Wissen, etwa im Verlauf einer verwaltungsgerichtlichen Beweisaufnahme, widerlegt werden könne, ändere nichts daran, dass es für die Betroffenheit auf den Kenntnishorizont der Grundrechtsträger im Moment des Versammlungsgeschehens ankomme. Schon die Möglichkeit der Beeinträchtigung der potentiellen Versammlungsteilnehmer in ihrer freien Entscheidung begründe den Grundrechtseingriff. Auf die behördliche Absicht komme es nicht an. Der Überflug unter Einsatz eines militärischen Kampfflugzeugs im Tiefstflug habe auch tatsächlich in die innere Versammlungsfreiheit der Betroffenen eingegriffen. Denn angesichts der dadurch aufgezeigten Möglichkeit des Einsatzes schwersten militärischen Kampfgeräts im Zusammenhang mit den Demonstrationen während des G8-Gipfels sei die Teilnahme hieran für die Betroffenen zu einem insoweit unvorhersehbaren, besorgniserregenden Unterfangen geworden. Ausgehend von dem Standpunkt eines verständigen Dritten ohne behördliches Sonderwissen habe auch die Nutzung eines Kamerasystems, der Erhebung von Lichtbildern und deren Auswertung durch den Beklagten eine Einschüchterungs- und Verunsicherungswirkung gehabt und deshalb einen Grundrechtseingriff dargestellt.

7 Die Klägerin beantragt, unter Abänderung der Urteile des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 15. Juli 2015, berichtigt durch Beschluss vom 2. Dezember 2015, sowie des Verwaltungsgerichts Schwerin vom 29. September 2011 festzustellen, dass der Überflug des Camps Reddelich am 5. Juni 2007 durch ein Tornado-Flugzeug der Deutschen Bundeswehr und die dabei erfolgte Fertigung, Weitergabe sowie Verwendung von Bildaufnahmen rechtswidrig war und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt wurde.

8 Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

9 Er verteidigt das angefochtene Urteil. Der Überflug über das Camp Reddelich habe lediglich wenige Sekunden gedauert. Soweit er durch die physische Präsenz des Tornado-Kampfflugzeuges einschüchternd gewirkt haben möge, sei dies ihm, dem Beklagten, nicht zuzurechnen. Gegenstand der erbetenen Amtshilfe seien Überflüge zum Zweck der Anfertigung von Übersichts- und Infrarot-Aufnahmen gewesen. Die operative Entscheidung, zum Zweck der Anfertigung dieser Aufnahmen die Flughöhe zu senken und das Camp im Tiefstflug zu überfliegen, habe er nicht beeinflussen können.

II

10 Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Berufungsgericht hat zwar zu Recht angenommen, dass die von der Klägerin gegen das Land Mecklenburg-Vorpommern gerichtete Feststellungsklage zulässig ist (1.). Das Berufungsurteil verletzt jedoch dadurch revisibles Recht im Sinne des § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO, dass es die Klage mit der tragenden Erwägung als unbegründet abgewiesen hat, bei dem Überflug des Camps durch ein Tornado-Kampfflugzeug der Bundeswehr in einer Höhe von 114 m habe es sich nicht um einen Eingriff in das Grundrecht der Klägerin aus Art. 8 Abs. 1 GG gehandelt (2.). Da die Feststellungen des Berufungsgerichts nicht ausreichen, um abschließend über das mit der Klage geltend gemachte Feststellungsbegehren...

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