Urteil vom 26.04.2023 - BVerwG 6 C 8.21

JurisdictionGermany
Judgment Date26 Abril 2023
Neutral CitationBVerwG 6 C 8.21
ECLIDE:BVerwG:2023:260423U6C8.21.0
Record Number260423U6C8.21.0
CitationBVerwG, Urteil vom 26.04.2023 - 6 C 8.21 -
Registration Date13 Junio 2023
Subject MatterPolizei- und Ordnungsrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesGG Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, Art. 21,OBG NRW § 14 Abs. 1,StGB § 130 Abs. 1 Nr. 2,VwGO § 108 Abs. 1 Satz 1, § 113 Abs. 1 Satz 4, § 137 Abs. 2

BVerwG 6 C 8.21

  • VG Düsseldorf - 29.04.2020 - AZ: 20 K 3926/19
  • OVG Münster - 22.06.2021 - AZ: 5 A 1386/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 26. April 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller, Hahn, und Dr. Tegethoff sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gamp
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 29. April 2020 und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Juni 2021 geändert
  2. Es wird festgestellt, dass die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 16. Mai 2019 rechtswidrig gewesen ist
  3. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in allen Instanzen
Gründe I

1 Der Kläger, ein Kreisverband der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), begehrt die Feststellung, dass die von der beklagten Stadt erlassene Verfügung rechtswidrig gewesen ist, Wahlplakate der NPD zur Europawahl 2019 zu entfernen oder unkenntlich zu machen.

2 Die Beklagte erteilte dem Kläger am 24. April 2019 eine bis zum 26. Mai 2019 befristete Sondernutzungserlaubnis, um 250 Wahlplakate anlässlich der am 26. Mai 2019 stattfindenden Wahl zum Europäischen Parlament im öffentlichen Straßenraum aufzuhängen. Eines dieser Plakate im Querformat zeigte in seinem rechten Drittel das Emblem der Partei in weißer und roter Farbe sowie darunter den in Weiß gedruckten Schriftzug "Widerstand - jetzt –". Auf dem linken Teil wurden auf schwarzgrauem Hintergrund die Ortsnamen verschiedener deutscher Städte und Gemeinden genannt, die jeweils durch ein Kreuz voneinander getrennt waren. Im Vordergrund befand sich unter der in Rot gedruckten Überschrift "Stoppt die Invasion:" der in Weiß gehaltene und durch seine Größe deutlich hervortretende Slogan "Migration tötet!".

3 Ohne vorherige Anhörung forderte die Beklagte den Kläger mit Bescheid vom 16. Mai 2019 auf, alle Wahlplakate mit dem Slogan "Stoppt die Invasion: Migration tötet!" in M. bis zum 17. Mai 2019, 12:00 Uhr zu entfernen oder unkenntlich zu machen. Zudem drohte sie die Durchführung im Wege der Ersatzvornahme an und ordnete die sofortige Vollziehung an. Das Plakat verletze das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit. Denn ihm sei die eindeutige Aussage zu entnehmen, dass sämtliche Migranten als Straftäter eine akute Bedrohung für Leib und Leben der deutschen Bevölkerung darstellten. Diese Verunglimpfung erfülle den Tatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Von einer Anhörung sei gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW abgesehen worden.

4 Das Verwaltungsgericht hat die auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellte Anfechtungsklage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen (NWVBl. 2022, 171). Die infolge der Erledigung des Verwaltungsakts statthafte und wegen der Wiederholungsgefahr zulässige Fortsetzungsfeststellungsklage sei unbegründet.

5 Allerdings habe nach § 28 Abs. 1 VwVfG NRW eine Anhörungspflicht bestanden. Zwar habe dem Grunde nach aus der ex-ante-Sicht der Beklagten Gefahr im Verzug vorgelegen, da sie davon habe ausgehen dürfen, dass die Gestaltung der Wahlplakate den Straftatbestand der Volksverhetzung erfülle. Unter Zugrundelegung dieser Einschätzung sei eine weitere Verzögerung nicht hinnehmbar gewesen. Der Anhörungsverzicht erweise sich aber als ermessensfehlerhaft, da die Beklagte rechtsirrig von einem Fall der Verwaltungsvollstreckung (§ 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW) ausgegangen sei. Auch sei das durch § 28 Abs. 2 VwVfG NRW eröffnete Verfahrensermessen nicht auf Null reduziert gewesen, da man eine Frist zur Stellungnahme bis zum nächsten Morgen setzen und sodann die Ordnungsverfügung mit einer noch kürzeren Frist hätte versehen können. Die Verletzung der Anhörungspflicht sei im Erledigungszeitpunkt auch nicht gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG NRW geheilt worden. Der Anhörungsmangel führe jedoch nach § 46 VwVfG NRW nicht zum Erfolg der Klage, weil aus dem ex-ante-Blickwinkel eine Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen habe. Wegen des Angriffs auf die Menschenwürde der betroffenen Personengruppe sei eine Ordnungsbehörde gehalten, die notwendigen ordnungsrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen, um diese Rechtsgutverletzung wirksam zu beenden.

6 Die auf § 14 Abs. 1 OBG NRW gestützte Ordnungsverfügung sei wegen der von dem Wahlplakat ausgehenden konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit materiell rechtmäßig gewesen. Vorliegend erfüllten Gestaltung und Inhalt des Wahlplakats den Straftatbestand der Volksverhetzung. Zwar sei mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bei der Subsumtion einer Meinungsäußerung unter eine Strafnorm der objektive Sinn nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums zu ermitteln. Bei mehrdeutigen Äußerungen seien zudem andere Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen. Das Wahlplakat sei jedoch (nur) einer Auslegung zugänglich, die den Straftatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfülle, weil die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Migranten in böswilliger Weise verächtlich gemacht würden. Ihm sei keine Begrenzung auf die Gruppe der seit Herbst 2015 eingereisten oder "krimineller" Migranten zu entnehmen. Der sich durch seine Gestaltung in den Vordergrund drängende Slogan "Migration tötet" lasse keine Einschränkung erkennen, sondern diene ausschließlich der Verdeutlichung der vom Kläger gesehenen Gefahr.

7 Auch ein böswilliges Verächtlichmachen liege vor, da das Lebensrecht der Betroffenen aus verwerflichen Beweggründen bestritten oder sie als unterwertig behandelt werden sollten. Der Begriff der Invasion deute auf einen feindlichen Einfall in ein fremdes Hoheitsgebiet hin. Dies werde durch die Verknüpfung mit dem Begriff der Migration verstärkt, welchem zudem tödliche Wirkung zugeschrieben werde. Zur Illustration würden dabei Orte aufgezählt, an denen in das Gebiet der Bundesrepublik eingereiste Ausländer Straftaten gegen das Leben zum Nachteil deutscher Staatsbürger begangen haben sollten. Es dränge sich die Aussage auf, dass Ausländer generell die Tötung Deutscher beabsichtigten und mit der zahlenmäßigen Zunahme der Migranten auch die Gefahr für Deutsche ansteige, Opfer zu werden. Eine strafrechtlich irrelevante Auslegung des Plakats scheide aus.

8 Zwar sei die hohe Zahl der in das Bundesgebiet einreisenden Ausländer insbesondere im Jahr 2015 und die Begehung eines Teils der beschriebenen Tötungsdelikte durch Asylbewerber Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Diskussionen gewesen. Das Wahlplakat könne aber nicht mehr als (überspitzter und polemischer) Beitrag zu dieser Debatte im Sinne einer Kritik an der Migrationspolitik verstanden werden, sondern generalisiere die geschehenen Taten erkennbar in Bezug auf die Gruppe aller Migranten.

9 Über diese selbstständig tragenden Erwägungen hinaus sei in dem hier vorliegenden Fall auch das Parteiprogramm der NPD in seinem Kern zu berücksichtigen. Dies führe erst recht zu der Annahme, dass jede nicht strafrechtlich relevante Deutung des Wahlplakats als fernliegend habe ausscheiden müssen. Ein Angriff auf die Menschenwürde zur Begründung eines volksverhetzenden Gehalts einer Wahlwerbung könne im Einzelfall unter Rückgriff auf das Programm einer Partei bzw. ihre innere Haltung abgeleitet werden, wenn jedenfalls der dauerhafte Kern des Parteiprogramms dem Wahlbürger so präsent sei, dass er die Aussage auch unter Berücksichtigung dieses Wissens auslegen und verstehen müsse. Soweit das Bundesverfassungsgericht einen solchen Rückgriff generell nicht für möglich erachtet habe, folge der Senat dem nicht.

10 Das Wahlplakat sei auch geeignet, den öffentlichen Frieden zu gefährden. Durch die Gestaltung und den Inhalt...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT