Urteil vom 31. Oktober 2023 - 2 BvR 900/22
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rs20231031.2bvr090022 |
Judgement Number | 2 BvR 900/22 |
Date | 31 Octubre 2023 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2023 - 2 BvR 900/22 -, Rn. 1-38, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2023
- 2 BvR 900/22 -
Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen
- Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt
- Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft
- Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt
- Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.
- Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.
- Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.
Verkündet
am 31. Oktober 2023
Fischböck
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 900/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn …, |
- Bevollmächtigte:
- … -
1. |
unmittelbar gegen |
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a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 20. April 2022 - 2 Ws 62/22, 2 Ws 86/22 -, |
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b) |
den Beschluss des Landgerichts Verden vom 25. Februar 2022 - 1 Ks 148 Js 1066/22 (102/22) -, |
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2. |
mittelbar gegen |
|
§ 362 Nummer 5 Strafprozessordnung (StPO) |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Müller,
Kessal-Wulf,
Maidowski,
Langenfeld,
Wallrabenstein,
Fetzer,
Offenloch
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24. Mai 2023 durch
für Recht erkannt:
- § 362 Nummer 5 der Strafprozessordnung in der Fassung des Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) vom 21. Dezember 2021 (Bundesgesetzblatt I Seite 5252) ist mit Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes, auch in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes), unvereinbar und nichtig.
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 20. April 2022 - 2 Ws 62/22, 2 Ws 86/22 - und der Beschluss des Landgerichts Verden vom 25. Februar 2022 - 1 Ks 148 Js 1066/22 (102/22) - verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes, auch in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Verden zurückverwiesen.
- Die einstweilige Anordnung vom 14. Juli 2022, zuletzt wiederholt durch Beschluss des Senats vom 16. Juni 2023, wird damit gegenstandslos.
- Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen haben dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren sowie das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu gleichen Teilen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Fragen, ob die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel mit Art. 103 Abs. 3 GG vereinbar und ob die neue Regelung rückwirkend anwendbar ist.
A.
I.
1. Die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten eines Angeklagten ist in § 362 StPO geregelt. Mit dem Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) vom 21. Dezember 2021 (BGBl I S. 5252) wurde die Norm um eine weitere Fallgruppe (Nr. 5) ergänzt. Die Vorschrift lautet seither:
§ 362 StPO Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten
Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig,
1. wenn eine in der Hauptverhandlung zu seinen Gunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war;
2. wenn der Zeuge oder Sachverständige sich bei einem zugunsten des Angeklagten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat;
3. wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat;
4. wenn von dem Freigesprochenen vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat abgelegt wird;
5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.
2. Die ersten vier Wiederaufnahmegründe und damit die vorausgehende Fassung des § 362 StPO lassen sich auf die Reichsstrafprozessordnung vom 1. Februar 1877 (RGBl S. 253 ff.) zurückführen.
a) Die Regelung in der Reichsstrafprozessordnung bildete anknüpfend an die uneinheitliche Rechtslage in den deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts einen Mittelweg zwischen einem akkusatorischen und einem inquisitorischen Strafverfahren ab (vgl. Motive zu dem Entwurf einer Deutschen Strafprozessordnung nach den Beschlüssen der von dem Bundesrath eingesetzten Kommission, 1873, S. 173 f.; Motive zum Entwurf einer Strafprozessordnung von 1874, abgedruckt in: Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 3, Erste Abteilung, 1880, S. 264 f.).
Der Grundsatz ne bis in idem wird auf das kontradiktorische Verfahren im römischen Recht zurückgeführt. Demgegenüber oblag nach dem gemeinrechtlichen und teils auch kodifizierten Inquisitionsverfahren die Aufgabe der Strafverfolgung ausschließlich dem Staat, der im Interesse der Allgemeinheit und der Gerechtigkeit die Wahrheit zu erkennen und durchzusetzen hatte. Dem Verfahrensziel, die objektive Wahrheit zu erlangen, entsprach es, auch nach Abschluss eines Verfahrens ein und dieselbe Tat erneut zu untersuchen und gegebenenfalls erneut zu bestrafen, wenn neue Verdachtsgründe oder Beweismittel zutage traten. Dies wurde durch die sogenannte Lossprechung von der Instanz (absolutio ab instantia) ermöglicht, wenn nach den gesetzlichen Beweisregeln des Inquisitionsverfahrens weder die Schuld noch die Unschuld festgestellt werden konnte (vgl. Grünewald, ZStW 120 <2008>, S. 545 <549>; Frank, Die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten im Strafverfahren, 2022, S. 11 ff. m.w.N.).
Nach Einführung des akkusatorischen Strafverfahrens in Frankreich infolge der Revolution von 1791 wurde der Anklageprozess in zahlreichen deutschen Partikularstaaten rezipiert und auch in § 179 Abs. 1 der Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 vorgegeben. Als Kern des akkusatorischen Verfahrens galt, dass die Parteien den Prozessstoff zu sammeln und vorzulegen hatten, so dass bewusst oder unbewusst nicht vorgebrachter Prozessstoff unbeachtlich war. Zugleich hielt der Gedanke der Rechtskraft der richterlichen Streitentscheidung Einzug in den Strafprozess. Bei offen gebliebenen Anklagepunkten trat an die Stelle der nur verfahrenseinstellenden absolutio ab instantia der Freispruch als verfahrensbeendendes Sachurteil (vgl. Grünewald, ZStW 120 <2008>, S. 545 <552> m.w.N.; Frank, Die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten im Strafverfahren, 2022, S. 19 ff.). Eine...
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