Beschluss vom 03. Februar 2021 - 2 BvR 2128/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20210203.2bvr212820 |
Date | 03 Febrero 2021 |
Judgement Number | 2 BvR 2128/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2128/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn D…, |
- Bevollmächtigter:
-
… -
gegen |
den Beschluss des Oberlandesgerichts München |
|
vom 28. Oktober 2020 - 2 Ws 1108/20 H - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
Wallrabenstein
am 3. Februar 2021 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 28. Oktober 2020 - 2 Ws 1108/20 H - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 des Grundgesetzes
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts München wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht München II zurückverwiesen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
A.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde, die er mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden hat, gegen die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft.
I.
1. Der am 6. Januar 2020 vorläufig festgenommene Beschwerdeführer befindet sich seit dem 7. Januar 2020 ununterbrochen in Untersuchungshaft. An diesem Tag erließ das Amtsgericht München einen auf den dringenden Tatverdacht der besonders schweren Brandstiftung und den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl.
2. Am 16. Juni 2020 erhob die Staatsanwaltschaft München II Anklage gegen den Beschwerdeführer zum Landgericht München II. Sie legte dem Beschwerdeführer besonders schwere Brandstiftung sowie unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in sieben Fällen zur Last. Der Beschwerdeführer habe zwischen dem 1. November 2019 und dem 5. Januar 2020 bei mindestens sechs Gelegenheiten jeweils mindestens 5 Gramm Marihuana veräußert und am 5. Januar 2020 in seiner Wohnung 0,5 Gramm Marihuana aufbewahrt, um durch einen späteren Verkauf Gewinn zu erzielen. Am selben Tag habe er sich über den Balkon Zutritt zur Wohnung seiner Großeltern verschafft. Da er sich verfolgt gefühlt habe, habe er dort randaliert und ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von etwa 20 cm an sich genommen. Nach Eintreffen der von den Großeltern verständigten Polizei habe der Beschwerdeführer die Wohnungstür von innen versperrt und einen Kleiderschrank in Brand gesetzt, was zu massiven Rauchentwicklungen geführt habe. Der Beschwerdeführer habe sich anschließend mit dem Küchenmesser in der Hand auf das Fensterbrett des geöffneten Schlafzimmerfensters gestellt und den sich außerhalb des Hauses aufhaltenden Polizeibeamten gedroht zuzustechen. Nach einem ihn verfehlenden Schuss der Polizeibeamten sei er auf den Balkon auf der gegenüberliegenden Seite der Wohnung geflüchtet, von wo aus er die Polizeibeamten mit dem Messer erneut bedroht habe, sodass Einsatzkräfte der Polizei und der Feuerwehr die Wohnung nicht betreten konnten. Der Beschwerdeführer habe letztlich mit mehreren Schüssen, von denen zwei den Beschwerdeführer in beide Unterschenkel getroffen hätten, überwältigt und in Gewahrsam genommen werden können. Erst zu diesem Zeitpunkt hätten die Einsatzkräfte der Feuerwehr die Wohnung betreten und den Brand löschen können. In der Wohnung der Großeltern des Beschwerdeführers sowie im Treppenhaus und den darüber liegenden Wohnungen hätten die Flammen und die Rauchentwicklung einen Schaden in Höhe von 120.000 Euro verursacht, sodass die Wohnungen für einen erheblichen Zeitraum unbewohnbar gewesen seien.
3. Die Anklageschrift wurde dem Verteidiger des Beschwerdeführers am 24. Juni 2020 mit Gelegenheit zur Äußerung binnen drei Wochen zugestellt. Mit Beschluss vom 16. Juli 2020 ordnete das Oberlandesgericht München im Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft an.
4. Mit Schreiben vom 29. Juli 2020 fragte die Vorsitzende der zunächst zuständigen 2. Strafkammer des Landgerichts München II beim Verteidiger des Beschwerdeführers Terminskollisionen für eine voraussichtlich im Januar und Februar 2021 stattfindende Hauptverhandlung an und bat nach Schriftwechsel mit Schreiben vom 10. August 2020 um verbindliche Reservierung von sieben Terminen zwischen dem 17. Februar 2021 und dem 10. März 2021 zur Durchführung der Hauptverhandlung.
5. Der Beschwerdeführer beantragte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 27. August 2020 die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung. Zur Begründung brachte er eine Verletzung des Beschleunigungsgebots an, da sich der Beschwerdeführer bei dem angedachten Beginn der Hauptverhandlung am 17. Februar 2021 bereits seit über 13 Monaten in Untersuchungshaft befinden würde. Das Ermittlungsverfahren sei von der Staatsanwaltschaft bereits am 16. Juni 2020 abgeschlossen worden. Trotz Entscheidungsreife sei noch nicht über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung entschieden worden. Es sei zudem nicht ersichtlich, wie das Verfahren ab Eröffnungsreife bis zum Beginn der Hauptverhandlung gefördert werden solle.
Mit Beschluss vom 8. September 2020 hielt die 2. Strafkammer den Haftbefehl aufrecht und ordnete dessen weiteren Vollzug an. Zur Begründung führte die Kammer unter anderem aus, dass im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Brandstiftung über den angeklagten Vorwurf hinausreichende, umfangreiche Ermittlungen erforderlich geworden seien, die insbesondere auch die Verletzungsfolgen und den Schadensumfang beträfen.
6. Mit Bericht vom 13. Oktober 2020 nahm die Staatsanwaltschaft München II zur anstehenden weiteren Haftprüfung durch das Oberlandesgericht gemäß § 121 Abs. 1, § 122 Abs. 4 StPO Stellung. Verwiesen wurde auf ein Telefonat mit der Vorsitzenden der 2. Strafkammer. Die Vorsitzende habe mitgeteilt, die Kammer warte das Ergebnis einer für den 19. oder 20. Oktober 2020 angedachten Sitzung des Präsidiums des Landgerichts ab. Besprochen werden solle in dieser Sitzung eine etwaige Entlastung der Kammer. Ob es zu einer Entlastung komme und ob das vorliegende Verfahren infolgedessen umverteilt werde, sei noch nicht absehbar.
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragte unter Bezugnahme auf den Bericht der Staatsanwaltschaft vom 13. Oktober 2020 die Fortdauer der Untersuchungshaft. Es könne mit einem zügigen Fortgang des Verfahrens gerechnet werden. Die 2. Strafkammer habe nach Eingang der Anklageschrift zunächst deren Zustellung veranlasst und Nachermittlungen zur Schadenshöhe in Auftrag gegeben. Mittlerweile seien mit den Verteidigern – vorbehaltlich der Eröffnung des Hauptverfahrens – sieben Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung in der Zeit vom 17. Februar 2021 bis zum 10. März 2021 vereinbart worden.
7. Mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 informierte das Landgericht den Verteidiger des Beschwerdeführers, dass das Verfahren „zuständigkeitshalber innerhalb des Gerichts abgegeben“ worden sei.
8. Mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2020 nahm der Verteidiger des Beschwerdeführers zur anstehenden Entscheidung über die Haftfortdauer gegenüber dem Oberlandesgericht München Stellung und rügte erneut einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot. Es seien keine Ermittlungen mehr notwendig, die für die Entscheidung über die Eröffnung der Hauptverhandlung erforderlich wären. Hinsichtlich des konkreten Brandschadens hätten bereits vor Anklageerhebung entsprechende Ermittlungsergebnisse vorgelegen. Weitere ergänzende Ermittlungsergebnisse seien der Verteidigung mit Schreiben der Kammer vom 10. Juli 2020 übersandt worden. Es sei nicht erkennbar, inwiefern weitere Schadensermittlungen notwendig seien, die derart viel Zeit in Anspruch nähmen, dass die Hauptverhandlung erst am 17. Februar 2021 beginnen könne. Überdies habe die konkrete Schadenssumme auch keinen Einfluss auf die Eröffnungsentscheidung, zumal nur kleinere Abweichungen im Raum stünden. Nachermittlungen bezüglich der tatbedingten Verletzungsfolgen seien ebenfalls für die Frage der Eröffnung des Hauptverfahrens irrelevant. Darüber hinaus würden diese ins Leere laufen, da keine ärztliche Schweigepflichtentbindung des Beschwerdeführers vorliege. Weitere Ermittlungen, die zwingend vor einer Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens durchzuführen wären, seien ihm nicht bekannt. Eröffnungsreife habe spätestens ab Mitte August vorgelegen. Der späte Beginn der Hauptverhandlung beruhe auf einer Überlastung der zuständigen Strafkammer.
Mit Schriftsatz vom 26. Oktober 2020 ergänzte der Verteidiger des Beschwerdeführers, dass auch durch die Abgabe des Verfahrens an die nunmehr zuständige 1. Strafkammer die bisher eingetretene deutliche Verfahrensverzögerung nicht mehr aufgeholt werden könne. Die Zeit ab der Eröffnungsreife bis zur – noch nicht terminierten – Hauptverhandlung, in der das Verfahren nicht gefördert worden sei und für die keine weitere Verfahrensförderung absehbar sei, werde deutlich mehr als die noch zulässigen drei Monate betragen.
9. Mit angegriffenem Beschluss vom 28. Oktober 2020 ordnete das Oberlandesgericht München die Fortdauer der gegen den Beschwerdeführer...
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