Beschluss vom 05. September 2022 - 1 BvR 65/22
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220905.1bvr006522 |
Date | 05 Septiembre 2022 |
Judgement Number | 1 BvR 65/22 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 05. September 2022 - 1 BvR 65/22 -, Rn. 1-38, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 65/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau (…), als Verfahrensbeiständin des Minderjährigen (…), |
- Bevollmächtigte:
-
(…) -
gegen |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 6. Dezember 2021 - 7 UF 413/21 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Britz,
und die Richter Christ,
Radtke
am 5. September 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 6. Dezember 2021 - 7 UF 413/21 - verletzt das betroffene Kind in seinen Rechten aus Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.
- Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
- Das Land Rheinland-Pfalz hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
- Der Antrag der Mutter des betroffenen Kindes, ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin (…) zu gewähren, wird zurückgewiesen.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist Verfahrensbeiständin eines im April 2019 geborenen Kindes. Dessen Eltern sind nicht miteinander verheiratet, haben aber eine gemeinsame Sorgeerklärung für das Kind abgegeben. Beide Eltern waren langjährige Betäubungsmittelkonsumenten. Zwischen den Eltern kam es sowohl in der Vergangenheit als auch aktuell immer wieder zu Trennungen und Versöhnungen. Die Mutter ist seit 2010 in psychiatrischer Behandlung und hat eine gesetzliche Betreuerin. Ihre beiden Töchter aus einer früheren Beziehung leben seit 2016 in einer Pflegefamilie.
Nach der Geburt des hier betroffenen Kindes verschlechterte sich der psychische Zustand der Mutter und es kam zu mehreren teilweise mit Gewalt ausgetragenen Konflikten zwischen den Eltern, gefolgt von gegenseitigen Anschuldigungen bis hin zu einer Strafanzeige der Mutter gegen den Vater. Das daraufhin eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.
Anfang 2020 befand sich die Mutter mit dem Kind in stationärer Behandlung in einer psychiatrischen Fachklinik. Es wurde unter anderem eine drogeninduzierte Psychose festgestellt. Der Vater war zu der Zeit arbeits- und wohnungslos. Nach Abbruch der Therapie wurde das Kind in Obhut genommen.
2. In einem einstweiligen Anordnungsverfahren entzog das Familiengericht den Eltern mit Beschluss vom 24. Juni 2020 vorläufig die elterliche Sorge in den Teilbereichen Aufenthaltsbestimmung, Regelung ärztlicher Versorgung und Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Eltern wies das Oberlandesgericht im Oktober 2020 zurück. Es begründete dies mit dem Verhalten der Eltern, insbesondere ihren Betäubungsmittelrückfällen und den mit körperlicher Gewalt ausgetragenen Partnerschaftskonflikten, den Berichten der psychiatrischen Fachklinik, wonach der Vater einen ungünstigen Einfluss auf die Mutter ausübe, und den dominant konflikt- und gewaltbereiten Äußerungen des Vaters im Verfahren.
3. a) Das Familiengericht holte im Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht ein Gutachten einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie unter anderem zu der Frage der Erziehungsfähigkeit beider Elternteile sowie zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung im elterlichen Haushalt ein. In ihrem am 8. März 2021 schriftlich erstatteten Gutachten bewertete die Sachverständige einen Wechsel des Kindes in den Haushalt der Eltern als kindeswohlgefährdend. In der Vergangenheit hätten die Eltern die kindeswohldienlichen Bedürfnisse durch ihren Drogenkonsum und die gewaltsamen Partnerschaftskonflikte stark verletzt, weshalb das Kind keine sicheren Bindungen zu den Eltern habe entwickeln können. Derzeit könne sich das Kind nicht an den Eltern als Bindungspersonen orientieren, so dass diese aktuell keine Sicherheitsbasis für das Kind darstellen könnten. Eine adäquate Erziehungsfähigkeit der Mutter sei wegen ihrer psychischen Instabilität nicht vorhanden, ambulante oder stationäre Hilfen seien nicht ausreichend, weshalb eine Gefahr für das Kindeswohl weiterhin nur durch eine Fremdplatzierung abzuwenden sei. Die Erziehungsfähigkeit des Vaters müsse noch weiter überprüft werden, er sei zwar aktuell drogenfrei und psychisch stabiler, jedoch sei fraglich, ob er insgesamt die personellen und instrumentellen Rahmenbedingungen für eine Verantwortungsübernahme für das Kind im Alltag gewährleisten könne. In Bezug auf den Vater sei eventuell ein behutsamer Wechsel des Kindes möglich, und zwar mit intensiver Vorbereitung und Begleitung durch eine stationäre Einrichtung. Zu beachten sei, dass das Kind mittlerweile stabile Bindungsanteile zu den Pflegeeltern entwickelt habe, weshalb bei einer Rückführung das Risiko einer Traumatisierung bestünde.
Mit Beschluss vom 2. August 2021 entzog das Familiengericht den Eltern im Hauptsacheverfahren wegen Kindeswohlgefährdung gemäß § 1666 BGB das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, zur Regelung der ärztlichen Versorgung, und der schulischen Angelegenheiten beziehungsweise des Kindergartens und bestellte das Jugendamt insoweit als Ergänzungspfleger. Der Sachverhalt, auf dessen Grundlage die Entscheidungen im Eilverfahren getroffen worden seien, habe sich nicht geändert, eine Kindeswohlgefährdung im Haushalt der Eltern bestehe noch immer.
b) Gegen diese Entscheidung legten die Eltern, die seit 2020 zunächst wieder in einem Haushalt lebten, unabhängig voneinander Beschwerde ein. In der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht sprachen sich das Jugendamt, der Ergänzungspfleger und die Beschwerdeführerin als Verfahrensbeiständin für einen Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie aus. Die dort gehörte, bereits vom Familiengericht beauftragte Sachverständige gab ausdrücklich keine Empfehlung ab. Die Mutter nahm ihr Rechtsmittel zurück und beantragte nur noch die Rückübertragung des Sorgerechts auf den Vater.
Mit angegriffenem Beschluss vom 6. Dezember 2021 änderte das Oberlandesgericht die amtsgerichtliche Entscheidung ab und übertrug das alleinige Recht zur Aufenthaltsbestimmung und zur Regelung der ärztlichen Versorgung sowie der schulischen Angelegenheiten beziehungsweise des Kindergartens auf den Vater bei bestehender gemeinsamer Sorge der Eltern in den anderen Teilbereichen. Zugleich gab es den Eltern die Durchführung einer medizinischen Reha-Maßnahme mit Unterstützung bei der Ausweitung der Umgangskontakte mit dem Kind auf. Darüber hinaus verpflichtete das Oberlandesgericht den Vater zur Teilnahme an einem Impulskontrolltraining und ordnete den Verbleib des Kindes „bis auf Weiteres“ im Haushalt der Pflegeeltern, „längstens bis zum 11. April 2022“ an. Aufgrund der Drogenabstinenz des Vaters und der Bearbeitung des Paarkonflikts gebe es keine Rechtfertigung mehr für den Eingriff in dessen Sorgerecht durch die Fremdunterbringung. Einer Entscheidung in Bezug auf die Mutter bedürfe es wegen der Zurücknahme ihrer Beschwerde nicht. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Elternrecht und dem Kindeswohl bei Rückführungsentscheidungen nach § 1632 Abs. 4 BGB seien größere Unsicherheiten über mögliche Beeinträchtigungen des Kindes hinnehmbar.
4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung der Grundrechte des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 sowie in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Zugleich hat sie die einstweilige Aussetzung der Entscheidung vom 6. Dezember 2021 beantragt.
Das Oberlandesgericht habe im Rahmen seiner Verantwortung nicht hinreichend sichergestellt, dass der Vater seine Pflege- und Erziehungsverantwortung zum Wohl des Kindes wahrnehmen könne. Es hätte sich trotz der Rücknahme der Beschwerde der Mutter auch mit deren Erziehungsfähigkeit auseinandersetzen müssen, weil die Eltern zusammenlebten und das Kind gemeinsam betreuten. Mit der Verleibensanordnung „bis auf Weiteres“ bringe das Gericht zum Ausdruck, dass es aktuell von einer Kindeswohlgefährdung ausgehe. Ein Kontrollinstrument, ab wann eine Gefährdung des Kindes nicht mehr bestehe, habe es aber nicht festgesetzt. Der Vielzahl an Gefährdungsmomenten für das Kind durch die Eltern, die sich während...
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