Beschluss vom 07. März 2022 - 1 BvR 65/22
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220307.1bvr006522 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 07. März 2022 - 1 BvR 65/22 -, Rn. 1-25, |
Judgement Number | 1 BvR 65/22 |
Date | 07 Marzo 2022 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 65/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau (…), als Verfahrensbeiständin des Minderjährigen (…), |
- Bevollmächtigte:
-
(…)
gegen |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 6. Dezember 2021 - 7 UF 413/21 - |
hier: | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Harbarth,
die Richterin Britz
und den Richter Radtke
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 7. März 2022 einstimmig beschlossen:
- Die Wirksamkeit des Beschlusses des Oberlandesgerichts Koblenz vom 6. Dezember 2021 - 7 UF 413/21 - wird einstweilen bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für sechs Monate ausgesetzt.
- Das Land Rheinland-Pfalz hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen im Verfahren der einstweiligen Anordnung zu erstatten.
I.
1. a) Die Beschwerdeführerin ist Verfahrensbeiständin eines im April 2019 geborenen Kindes. Dessen nicht miteinander verheiratete Eltern hatten zunächst die gemeinsame Sorge inne. Beide Eltern waren langjährige Betäubungsmittelkonsumenten. Ihre Beziehung war in der Vergangenheit durch wiederholte Trennungen und Versöhnungen gekennzeichnet. Die Mutter ist seit 2010 in psychiatrischer Behandlung und hat eine gesetzliche Betreuerin. Ihre beiden Töchter aus einer früheren Beziehung leben seit 2016 in einer Pflegefamilie, in der seit seiner Inobhutnahme auch ihr Halbbruder, das im Ausgangsverfahren betroffene Kind, untergebracht ist.
b) Nach der Geburt des Kindes im April 2019 verschlechterte sich der psychische Zustand der Mutter und es kam zu mehreren teilweise mit Gewalt ausgetragenen Konflikten zwischen den Eltern. Anfang 2020 befand sich die Mutter mit dem Kind in stationärer Behandlung in einer psychiatrischen Fachklinik. Bei ihr wurde unter anderem eine drogeninduzierte Psychose diagnostiziert. Im Abschlussbericht der Fachklinik wurde die Kooperation mit der Mutter als schwierig beschrieben. Sie sei in hohem Maße emotional instabil, wirke desorganisiert und habe deutliche Schwierigkeiten in der gemeinsamen Alltagsbewältigung mit ihrem Sohn gezeigt. Der Vater ließ sich bei festgestelltem Amphetaminkonsum ebenfalls in eine Klinik zur Entgiftung aufnehmen. Diese brach er jedoch gegen ärztlichen Rat vorzeitig ab.
Die Mutter wechselte anschließend an den Aufenthalt in der Fachklinik mit dem Kind in eine Langzeittherapie, die sie nach rund sechs Wochen abbrach. Nach Einschätzung der Therapieeinrichtung trat bei der Mutter zunehmend eine Therapieambivalenz zu Tage; die Zusammenarbeit mit ihr sei immer schwieriger geworden. Im Umgang mit ihrem Sohn sei sie unsicher und überfordert gewesen. Sie habe dessen Bedürfnisse kaum wahrnehmen und nicht angemessen auf diese reagieren können. Nach dem Therapieende wurde das Kind in Obhut genommen und in der Familie in Bereitschaftspflege gegeben, in der auch seine beiden Halbschwestern leben.
2. a) Nachdem das Jugendamt ein Kindswohlgefährdungsverfahren angeregt hatte, wurde den Eltern am 24. Juni 2020 im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens vorläufig die elterliche Sorge in den Teilbereichen Aufenthaltsbestimmung, Regelung ärztlicher Versorgung und Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen entzogen. Auf die Beschwerde der Eltern bestätigte das Oberlandesgericht am 9. Oktober 2020 die familiengerichtliche Entscheidung. Zur Begründung führte das Oberlandesgericht das Verhalten der Eltern, insbesondere ihre Betäubungsmittelrückfälle und die mit körperlicher Gewalt ausgetragenen Partnerschaftskonflikte, die Berichte der psychiatrischen Fachklinik, wonach der Vater einen ungünstigen Einfluss auf die Mutter ausübe, und die dominant konflikt- und gewaltbereiten Äußerungen des Vaters im Verfahren an.
b) Im Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht holte das Familiengericht ein unter anderem auf die Erziehungsfähigkeit der Eltern bezogenes Gutachten ein, das die Sachverständige schriftlich am 8. März 2021 erstattete. Nach Einschätzung der Sachverständigen stelle der Wechsel des Kindes in den Haushalt der Eltern eine Kindeswohlgefährdung dar. In der Vergangenheit hätten die Eltern die kindeswohldienlichen Bedürfnisse durch ihren Drogenkonsum und die gewaltsamen Partnerschaftskonflikte stark verletzt, weshalb das Kind keine sicheren Bindungen zu den Eltern habe entwickeln können. Eine adäquate Erziehungsfähigkeit der Mutter sei wegen ihrer psychischen Instabilität nicht vorhanden, ambulante oder stationäre Hilfen seien nicht ausreichend. Die Gefahr für das Kindeswohl könne deshalb weiterhin nur durch eine Fremdplatzierung abgewendet werden. Die Erziehungsfähigkeit des Vaters müsse noch weiter überprüft werden. Er sei zwar aktuell drogenfrei und psychisch stabiler, jedoch sei fraglich, ob er insgesamt die personellen und instrumentellen Rahmenbedingungen für eine Verantwortungsübernahme für das Kind im Alltag gewährleisten könne. In Bezug auf den Vater sei eventuell ein behutsamer Wechsel des Kindes möglich, und zwar mit intensiver Vorbereitung und Begleitung durch eine stationäre Einrichtung. Zu beachten sei, dass das Kind mittlerweile stabile Bindungsanteile zu den Pflegeeltern entwickelt habe, weshalb bei einer Rückführung das Risiko einer Traumatisierung bestünde.
Mit Beschluss vom 2. August 2021 entzog das Familiengericht den Eltern im Hauptsacheverfahren wegen Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, zur Regelung der ärztlichen Versorgung, der schulischen Angelegenheiten beziehungsweise der des Kindergartens und bestellte das Jugendamt insoweit als Ergänzungspfleger. Der Sachverhalt, auf dessen Grundlage die Entscheidungen im Eilverfahren getroffen worden seien, habe sich nicht geändert, eine Kindeswohlgefährdung im Haushalt der Eltern bestehe noch immer.
c) Gegen diese Entscheidung legten die Eltern, die seit 2020 wieder in einem Haushalt leben, getrennt voneinander Beschwerde ein. In der mündlichen...
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