Beschluss vom 08. Dezember 2021 - 2 BvR 1282/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20211208.2bvr128221 |
Judgement Number | 2 BvR 1282/21 |
Date | 08 Diciembre 2021 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 08. Dezember 2021 - 2 BvR 1282/21 -, Rn. 1-31, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1282/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter:
-
(…) -
gegen |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 5. Juli 2021 - III - 4 AR 57/21 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
am 8. Dezember 2021 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 5. Juli 2021 - III - 4 AR 57/21 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit die Auslieferung für zulässig erklärt wurde; er wird in diesem Umfang aufgehoben
- Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro und für das einstweilige Anordnungsverfahren auf 7.500 (in Worten: siebentausendfünfhundert) Euro festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung eines russischen Staatsangehörigen zum Zwecke der Strafverfolgung in die Russische Föderation.
I.
1. Dem Beschwerdeführer wird in dem dem Auslieferungsverfahren zugrundeliegenden Haftbefehl des Stadtgerichts Jushno-Sachalinsk vom 3. Februar 2017 vorgeworfen, als alleiniger Anteilseigner einer Aktiengesellschaft (ein Fischverarbeitungsbetrieb) gemeinschaftlich handelnd mit zwei weiteren Personen zwischen März 2014 und Januar 2016 Abgaben und Steuerrückstände des Unternehmens nicht beglichen und die Pfändung von Unternehmenskonten vereitelt zu haben. Ferner soll er mit der Absicht der Gläubigerbenachteiligung Immobilienvermögen einer insolventen Gesellschaft an eine weitere Gesellschaft übertragen haben. Mit Schreiben vom 14. Juni 2017 ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation um die Auslieferung des Beschwerdeführers. Dieser erklärte sich mit einer Auslieferung im vereinfachten Verfahren nicht einverstanden und verzichtete nicht auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität.
2. Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2020 erklärte der Beschwerdeführer, dass er aus politischen Gründen verfolgt werde und die Tatvorwürfe inszeniert seien. Das Strafverfahren diene lediglich dazu, ihn aus seiner Eigentümerstellung zu verdrängen, um die Aktiengesellschaft zum Minimalpreis verstaatlichen zu können. Unter Mitwirkung des zuständigen Gouverneurs der Oblast Sachalin sei in einer Fernsehsendung mit dem russischen Präsidenten im April 2016 bewusst die Falschmeldung lanciert worden, die Aktiengesellschaft habe monatelang keine Löhne an die Arbeiter ausbezahlt, obwohl diese rechtzeitig gezahlt worden seien. Dieses Vorgehen habe wie beabsichtigt zur Folge gehabt, dass die Aktiengesellschaft nur wenige Tage später insolvent gewesen sei. Auch der Vorwurf der Steuerhinterziehung sei unberechtigt. Auf Nachfrage bei den Finanzbehörden, welche Steuerschulden im Januar 2016 bestanden haben sollen, sei im Juli 2020 mitgeteilt worden, dass diese nur in Höhe von umgerechnet etwa 1.000 Euro bestanden hätten und zwischenzeitlich vollständig beglichen worden seien. Zudem seien die ihm zur Last gelegten Delikte bereits verjährt, was auch die russische Justiz erkannt habe. Denn nachdem seiner angeblichen Mittäterin zunächst dieselben Delikte vorgeworfen und sie zu einer Geldstrafe von umgerechnet 1.500 Euro verurteilt worden sei, habe das russische Berufungsgericht durch Urteil vom 21. Februar 2019 den Eintritt der Verjährung festgestellt. Es bestehe auch die Gefahr unmenschlicher beziehungsweise erniedrigender Haftbedingungen, da ihm kein individueller Haftraum von mindestens 3 m² zur Verfügung stehen werde und unangemessene Haftbedingungen in Russland ein offensichtlich wiederkehrendes sowie weit verbreitetes Problem seien.
3. Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation teilte mit Schreiben vom 24. August 2020 und 21. Mai 2021 mit, dass zugesichert werde, dass das Auslieferungsersuchen nicht der politischen Verfolgung diene. Die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Straftaten seien nicht mit einer politischen Tätigkeit innerhalb Russlands verbunden, weshalb die Strafverfolgung nicht politisch motiviert sei. Ihm würden alle Verteidigungsmöglichkeiten gewährt, und er werde keiner Folter, unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 und Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgesetzt sein. Er werde in einer Anstalt untergebracht sein, die den Anforderungen der EMRK und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen entspreche. Die Beamten der deutschen Botschaft oder des Konsulats dürften ihn während der Haft besuchen.
In der Untersuchungshaft werde der individuelle Haftraum mindestens 4 m² und im allgemeinen Strafvollzug mindestens 3 m² betragen. In der Untersuchungshaftanstalt im Gebiet Sachalin bestehe keine Überbelegung. Der Beschwerdeführer werde in einem 17 m² großen Raum (ohne Einberechnung der Sanitärfläche) für vier Personen untergebracht. Dieser Raum sei mit zwei Doppelstockbetten, Spiegel, Regal, Tageslicht- und Nachtbeleuchtung, abgetrenntem Sanitärraum mit WC und Waschbecken, Heizkörper sowie einem Kalt- und Heißwasseranschluss, Trinkwasserbehälter und Rundfunkempfang ausgestattet. Mindestens einmal die Woche bestehe die Möglichkeit zu duschen und wöchentlich werde die Bettwäsche gewechselt. Im Strafvollzug werde der Beschwerdeführer im Gebiet Wladimirer in einer Haftanstalt im Bereich Nr. 11 untergebracht. Eine Überbelegung bestehe dort ebenfalls nicht. Im Bereich Nr. 11 seien derzeit 79 Personen auf einer Gesamtfläche (Hafträume, Zimmer für die Erziehungsarbeit, Räume zur Aufbewahrung von Gegenständen, Speisezimmer, Waschraum sowie Sanitärräume und sonstige Räumlichkeiten, in denen sich die Gefangenen tagsüber bewegen können) von 252,2 m² untergebracht. Es bestehe zwei Mal die Woche die Möglichkeit zu duschen und die Leib- und Bettwäsche werde wöchentlich gewechselt. Die Straftaten seien nicht verjährt. Die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte seien Fälle leichter Kriminalität, deren Verjährung durch die Fahndungsausschreibung mit Beschluss vom 19. April 2016 gehemmt worden sei.
4. Mit angegriffenem Beschluss vom 5. Juli 2021 erklärte das Oberlandesgericht Düsseldorf die Auslieferung für zulässig. Die Straftaten seien auslieferungsfähig. Die fiskalischen Straftaten seien sowohl nach deutschem als auch nach russischem Recht strafbar. Es liege weder eine politische Verfolgung vor, noch sei ein Verjährungseintritt gegeben, da dies die russischen Behörden mit den Schreiben vom 24. August 2020 und 21. Mai 2021 zugesichert hätten. Auch ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK sei nicht ersichtlich. Mit Schreiben vom 24. August 2020 hätten die russischen Behörden zugesichert, dass der Beschwerdeführer menschenrechtskonform behandelt und untergebracht werde. Mit Schreiben vom 21. Mai 2021 sei konkret mitgeteilt worden, in welchen Haftanstalten er während der Quarantänezeit und Untersuchungshaft sowie im Falle seiner Verurteilung untergebracht werde. Daraus ergebe sich die „völkerrechtlich verbindliche, individuell auf den [Beschwerdeführer] bezogene Zusicherung, dass ihm während des gesamten Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens ein individueller Anteil von mindestens 3 m² im Haftraum garantiert“ werde.
II.
1. Mit der am 21. Juli 2021 fristgemäß eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG.
Unter Wiederholung seines fachgerichtlichen Vortrags führt er aus, dass ein Fall politischer Verfolgung gegeben sei. Es habe gegen ihn ein Komplott unter Mitwirkung der politischen Führung der Russischen Föderation gegeben. Sein bisheriger wirtschaftlicher Konkurrent, der Gouverneur der Oblast, und mittelbar auch der russische Ministerpräsident hätten wirtschaftliche Vorteile durch die Übernahme seiner...
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