Beschluss vom 09. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20211209.2bvr133321 |
Date | 09 Diciembre 2021 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 09. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 1-69, |
Judgement Number | 2 BvR 1333/21 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1333/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…) , |
- Bevollmächtigter:
- Rechtsanwalt (…) -
gegen |
a) den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juni 2021 - 10 CE 21.748, 10 C 21.752 -, |
|
b) den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 11. Februar 2021 - Au 1 E 20.2821 -, |
||
c) den Bescheid des Landratsamts Oberallgäu vom 17. Dezember 2020 - SG 43 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt (…) , |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
Wallrabenstein
am 9. Dezember 2021 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juni 2021 - 10 CE 21.748, 10 C 21.752 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 des Grundgesetzes, soweit dem Beschwerdeführer eine einstweilige Duldung und eine einstweilige Verfahrensduldung versagt werden. Der Beschluss wird insoweit aufgehoben
- Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.
A.
Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen es dem Beschwerdeführer zuzumuten ist, zur Durchführung eines Visumverfahrens in seinem Heimatland die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und damit eine wenigstens vorübergehende Trennung von seinen hier aufenthaltsberechtigten Kindern hinzunehmen.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist am (…) geboren und nigerianischer Staatsangehöriger. Er reiste erstmals am 3. September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte nach zwischenzeitlicher Ausreise bei seiner Wiedereinreise am 20. Juni 2016 einen Asylantrag. Im Polizeilichen Informationssystem (INPOL/SIS) ist er mit fünf Alias-Personalien betreffend die Schreibweise des Vor- beziehungsweise Nachnamens, das Geburtsjahr sowie den Geburtsort geführt.
2. Der Beschwerdeführer hat zusammen mit seiner im Oberallgäu lebenden nigerianischen Lebensgefährtin zwei gemeinsame Kinder, die am (…) und am (…) geboren wurden. Die Mutter der Kinder hat zudem ein weiteres Kind, das die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Daher sind sowohl die Lebensgefährtin als auch die beiden Kinder des Beschwerdeführers im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen.
3. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Kempten (Allgäu) vom 30. Mai 2017 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen Urkundenfälschung eine Geldstrafe in Höhe von 80 Tagessätzen zu je zehn Euro verhängt. Bei einer Überprüfung am 31. Juli 2016 anlässlich einer Kontrolle in München hatte sich herausgestellt, dass es sich bei dem türkischen Passkontrollstempel im Nationalpass des Beschwerdeführers sowie dem Schengenvisum um Totalfälschungen handelt. Der bis zum 31. Juli 2021 gültige Nationalpass des Beschwerdeführers enthielt keine Fälschungsmerkmale.
4. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 31. Juli 2017 ab. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen, und drohte die Abschiebung nach Nigeria an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (im Folgenden: AufenthG) befristete das Bundesamt auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. In der Folge wurde der Beschwerdeführer geduldet, zuletzt mit Duldung vom 27. November 2020, gültig bis zum 16. Dezember 2020. Gegen den ablehnenden Asylbescheid erhob der Beschwerdeführer Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg (im Folgenden: Verwaltungsgericht), die mit rechtskräftigem Urteil vom 3. Juli 2019 abgewiesen wurde.
5. Mit Bescheid vom 4. Juni 2018 lehnte das Landratsamt Oberallgäu – Amt für Migration – (im Folgenden: Ausländerbehörde) einen noch während des laufenden Asylverfahrens gestellten Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge ab. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
6. Am 31. Mai 2019 stellte der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Mit Schreiben vom 23. Oktober 2019 teilte die Ausländerbehörde mit, sie beabsichtige, den Antrag abzulehnen; sie bot dem Beschwerdeführer als Kompromiss an, unter der Bedingung, dass der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zurückgenommen werde, sich mit einer Vorabzustimmung zur Nachholung des Visumverfahrens gemäß § 31 Abs. 3 der Aufenthaltsverordnung (im Folgenden: AufenthV) einverstanden zu erklären.
Daraufhin nahm der Beschwerdeführer am 14. November 2019 den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zurück und legte der Ausländerbehörde zugleich eine Registrierung für die Zuweisung eines Vorsprachetermins zur Beantragung eines Visums bei dem deutschen Generalkonsulat in Nigeria, Lagos, (nachfolgend: Auslandsvertretung) vor. Am 4. Februar 2020 trafen der Beschwerdeführer und die Ausländerbehörde eine Vereinbarung dahingehend, dass der Beschwerdeführer bis zum 15. September 2020 den Termin zur Beantragung des Visums zur Familienzusammenführung sowie das Ausreisedatum (das kurz vor dem Termin liegen könne) mitteilen und bei Vorlage des Sprachzertifikats A1 eine Vorabzustimmung beantragen würde; im Gegenzug würde die Ausländerbehörde die Duldung übergangsweise bis zur Ausreise und Nachholung des Visumverfahrens aufrechterhalten und die Vorabzustimmung erteilen.
7. Die Auslandsvertretung wies dem Beschwerdeführer mit E-Mail vom 12. November 2020 einen Termin am 19. November 2020 zu. Im November 2020 bestand in Nigeria wegen der COVID-19-Pandemie für Einreisende eine einwöchige Quarantänepflicht. Auf den Hinweis des Beschwerdeführers an die Auslandsvertretung, dass er sich noch im Bundesgebiet aufhalte, teilte diese ihm mit, dass er sich nach Eintreffen in Nigeria erneut mit der Auslandsvertretung in Verbindung setzen solle, sodass ein neuer zeitnaher Termin vergeben werden könne. Der Beschwerdeführer reiste nicht aus.
II.
1. Am 17. November 2020 beantragte der Beschwerdeführer bei der Ausländerbehörde erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG. Am 7. Dezember 2020 stellte der Beschwerdeführer zudem einen Antrag auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
2. Mit angegriffenem Bescheid vom 17. Dezember 2020 lehnte die Ausländerbehörde den Antrag auf Erteilung einer Duldung vom 7. Dezember 2020 sowie den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 17. November 2020 ab. Zugleich forderte die Ausländerbehörde den Beschwerdeführer auf, das Bundesgebiet unverzüglich zu verlassen, und räumte ihm eine Frist zur freiwilligen Ausreise bis zum 16. Januar 2021 ein.
a) Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung lägen nicht vor. Die Abschiebung sei insbesondere rechtlich möglich. Dem Beschwerdeführer sei die Trennung von seinen Kindern, um das Visumverfahren nachzuholen, zumutbar. Die nun unter Umständen etwas länger andauernde Trennung liege allein in der Verantwortung des Beschwerdeführers. Art. 6 GG gewähre keinen dauerhaften Anspruch auf Erteilung einer Duldung, zumal mit Nachholung des Visumverfahrens eine Rückkehr ins Bundesgebiet möglich sei und daher keine dauerhafte Trennung der Kinder von ihrem Vater erfolge.
b) Auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG scheide aus. Es fehle insbesondere an der rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise. Ein Visumverfahren sei immer mit Unannehmlichkeiten (Zeit- und Geldaufwand) verbunden. Für das Visumverfahren sei ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Vorabzustimmung hingewiesen worden, um die Zeit des Getrenntlebens von der Familie zu verkürzen. Der Beschwerdeführer habe es selbst in der Hand gehabt, sich bereits von Deutschland aus um ein Einreisevisum zur Familienzusammenführung bei der Auslandsvertretung zu bemühen.
3. Der Beschwerdeführer erhob hierauf am 28. Dezember 2020 Klage zum Verwaltungsgericht und beantragte, den Freistaat Bayern als Rechtsträger der Ausländerbehörde zu verpflichten, dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen und ihm bis dahin eine Duldungsbescheinigung gemäß § 60a AufenthG auszustellen. Über die Klage ist in der Hauptsache noch nicht entschieden.
Ebenfalls am 28. Dezember 2020 suchte der Beschwerdeführer bei dem Verwaltungsgericht um einstweiligen Rechtsschutz nach und beantragte, die Ausländerbehörde zu verpflichten, den Beschwerdeführer vorläufig und bis zur Bestandskraft der...
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