Beschluss vom 09. Februar 2022 - 2 BvL 1/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:ls20220209.2bvl000120 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 09. Februar 2022 - 2 BvL 1/20 -, Rn. 1-127, |
Judgement Number | 2 BvL 1/20 |
Date | 09 Febrero 2022 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsatz
zum Beschluss des Zweiten Senats vom 9. Februar 2022
2 BvL 1/20
- Zu Inhalt und Reichweite des Verbots einer Verschleifung strafrechtlicher Tatbestandsmerkmale (Art. 103 Abs. 2 GG).
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvL 1/20 -
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob § 315d Absatz 1 Nummer 3 Strafgesetzbuch mit dem Grundgesetz vereinbar ist |
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Villingen-Schwenningen vom 16. Januar 2020 - 6 Ds 66 Js 980/19 -, ergänzt durch Beschluss des Amtsgerichts Villingen-Schwenningen vom 17. Februar 2020 - 6 Ds 66 Js 19311/19 - und Beschluss des Amtsgerichts Villingen-Schwenningen vom 28. Juli 2020 - 6 Ds 66 Js 19311/19 -, |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
Maidowski,
Langenfeld,
Wallrabenstein
am 9. Februar 2022 beschlossen:
- § 315d Absatz 1 Nummer 3 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Sechsundfünfzigsten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 30. September 2017 (Bundesgesetzblatt I Seite 3532) ist mit dem Grundgesetz vereinbar
A.
Die Vorlage des Amtsgerichts Villingen-Schwenningen hat die Frage zum Gegenstand, ob § 315d Abs. 1 Nr. 3 des Strafgesetzbuches (StGB) in der Fassung des 56. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 30. September 2017 (BGBl I S. 3532) mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
I.
1. § 315d StGB hat folgenden Wortlaut:
§ 315d
Verbotene Kraftfahrzeugrennen
(1) Wer im Straßenverkehr
1. ein nicht erlaubtes Kraftfahrzeugrennen ausrichtet oder durchführt,
2. als Kraftfahrzeugführer an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen teilnimmt oder
3. sich als Kraftfahrzeugführer mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Wer in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 2 oder 3 Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(3) Der Versuch ist in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 strafbar.
(4) Wer in den Fällen des Absatzes 2 die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(5) Verursacht der Täter in den Fällen des Absatzes 2 durch die Tat den Tod oder eine schwere Gesundheitsschädigung eines anderen Menschen oder eine Gesundheitsschädigung einer großen Zahl von Menschen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.
2. Anlass für die Einführung der Norm war die zunehmende Anzahl illegaler Kraftfahrzeugrennen, bei denen Unbeteiligte getötet oder schwer verletzt wurden (vgl. BRDrucks 362/16, S. 3). Die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten entfalteten nach Einschätzung von Polizei und Unfallforschern kaum durchgreifende Abschreckungswirkung (vgl. BRDrucks 362/16, S. 3; Wortprotokoll der 157. Sitzung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, Protokoll-Nr. 18/157, S. 15).
a) Die Länder Nordrhein-Westfalen und Hessen brachten deshalb am 30. Juni 2016 einen Gesetzesantrag in den Bundesrat ein, der die Strafbarkeit der Veranstaltung von und der Teilnahme an nicht genehmigten Kraftfahrzeugrennen nach § 315d StGB bereits im Vorfeld konkreter Rechtsgutsgefährdungen zum Gegenstand hatte. Ferner sollte der bestehende § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB um den Buchstaben h ergänzt werden, welcher die Teilnahme an einem nicht genehmigten Kraftfahrzeugrennen beinhaltete, um zusätzlich die Fälle, in denen eine konkrete Lebens-, Leibes- oder erhebliche Sachgefahr eintritt, vollständig zu erfassen (vgl. BRDrucks 362/16, S. 3).
b) Am 23. September 2016 beschloss der Bundesrat, eine gegenüber dem Ausgangsentwurf um ein konkretes Gefährdungsdelikt in Absatz 2 ergänzte Fassung des § 315d StGB beim Bundestag einzubringen (vgl. BRDrucks 362/16
c) Am 31. Mai 2017 stellte die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Antrag auf Änderung des § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe d StGB. Sie wollte die tatbestandliche Einschränkung „an unübersichtlichen Stellen, an Straßenkreuzungen, Straßeneinmündungen oder Bahnübergängen“ streichen, um generell im Straßenverkehr grob verkehrswidriges und rücksichtsloses zu schnelles Fahren und die dadurch eintretende Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert zu erfassen (vgl. BTDrucks 18/12558, S. 2).
d) Die Strafbarkeit des sogenannten Einzelrennens als abstraktes Gefährdungsdelikt wurde erstmals mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD vom 16. Juni 2017 in die Diskussion eingebracht. Dem im Antragsentwurf vorgeschlagenen § 315d Abs. 1 StGB sollte eine Nummer 3 mit folgendem Wortlaut hinzugefügt werden (Deutscher Bundestag, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Ausschussdrucksache Nr. 18(6)360):
[Wer im Straßenverkehr]
(…)
als Kraftfahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich, grob verkehrswidrig und rücksichtslos überschreitet, um eine besonders hohe Geschwindigkeit zu erreichen
(…)
[wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.]
e) Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz führte eine Sachverständigenanhörung durch, in deren Verlauf Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit des in dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen enthaltenen subjektiven Tatbestandsmerkmals „um eine besonders hohe Geschwindigkeit zu erreichen“ geäußert wurden (vgl. Protokoll-Nr. 18/157, S. 37 f.
Er empfahl daher eine geänderte Fassung des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB, die durch den Bundestag im Zuge des 56. Strafrechtsänderungsgesetzes am 29. Juni 2017 angenommen wurde (vgl. Plenarprotokoll 18/243, S. 24909). Die Vorschrift trat am 13. Oktober 2017 in Kraft.
f) Zur Begründung des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB in der verabschiedeten – und hier zur Überprüfung gestellten – Fassung führte der Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz aus (vgl. BTDrucks 18/12964, S. 5 f.):
Die Regelung des § 315d Absatz 1 Nummer 3 StGB erfasst diejenigen Fälle, in denen nur ein einziges Fahrzeug objektiv und subjektiv ein Kraftfahrzeugrennen nachstellt. Es handelt sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Das Führen des Kraftfahrzeugs muss mit nicht angepasster Geschwindigkeit erfolgen. Damit ist ein zu schnelles Fahren gemeint, das Geschwindigkeitsbegrenzungen verletzt oder der konkreten Verkehrssituation zuwiderläuft. Die Geschwindigkeit ist insbesondere den Straßen-, Sicht- und Wetterverhältnissen anzupassen. Die Formulierungen grob verkehrswidrig und rücksichtslos orientieren sich an § 315c Absatz 1 Nummer 2 StGB und der dazu entwickelten Rechtsprechung. Subjektiv ist das Anliegen erforderlich, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Diese Formulierung bringt möglichst viele relevante Komponenten auf einen Nenner, wie die fahrzeugspezifische Höchstgeschwindigkeit und Beschleunigung – wobei diese im Einzelfall nicht immer erreicht sein muss –, subjektives Geschwindigkeitsempfinden, Verkehrslage, Witterungsbedingungen und anderes. Diese Tatbestandsvoraussetzung soll insbesondere dem Erfordernis des Renncharakters – auch im Fall des § 315d Absatz 1 Nummer 3 StGB – gerecht werden. Bloße Geschwindigkeitsüberschreitungen sollen hingegen nicht von der Strafbarkeit umfasst werden, auch wenn sie erheblich sind.
II.
Dem Angeschuldigten des Ausgangsverfahrens wird unter anderem eine Straftat nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB zur Last gelegt.
1. Am 25. November 2019 erhob die Staatsanwaltschaft Konstanz Anklage zum Amtsgericht Villingen-Schwenningen – Strafrichter – wegen des Vorwurfs des verbotenen Kraftfahrzeugrennens in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort und Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 315d Abs. 1 Nr. 3, § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB, § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG, § 52 StGB). Angeklagt war eine drei bis vier Minuten andauernde Polizeifluchtfahrt des Angeschuldigten, bei der er – teils innerhalb geschlossener Ortschaften – Geschwindigkeiten zwischen 80 und 100 km/h erreicht haben soll. Während der Verfolgungsfahrt sei es dem Angeschuldigten durchgehend darauf angekommen, unter Berücksichtigung der Verkehrslage und der Motorisierung seines Fahrzeugs möglichst schnell zu fahren, um auf diese Weise die ihn verfolgenden Polizeibeamten abzuschütteln. Er habe dabei nacheinander insgesamt vier Lichtzeichenanlagen, die jeweils bereits seit über einer Sekunde Rotlicht angezeigt hätten, überfahren und sei aufgrund überhöhter Geschwindigkeit mit einem Verkehrsteiler kollidiert. Hierdurch sei an diesem ein Sachschaden in Höhe von 272,33 Euro entstanden. Obwohl der Angeschuldigte dies...
Um weiterzulesen
FORDERN SIE IHR PROBEABO AN-
Beschluss vom 07. Dezember 2022 - 2 BvR 1404/20
...Verbot strafbegründender Analogie (vgl. BVerfGE 75, 329 ; 126, 170 ; 130, 1 ; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 9. Februar 2022 - 2 BvL 1/20 -, Rn. 88). Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die – tatbes......
-
Urteil Nr. 1 StR 389/21 des 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, 06-09-2022
...werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestands-merkmalen aufgehen (st. Rspr.; zuletzt etwa BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 2022 – 2 BvL 1/20, zur Veröffentlichung in BVerfGE 160 vorgesehen Rn. 99; siehe auch BGH, Beschluss vom 22. November 2012 – 1 StR 537/12, BGHSt 58, 50 Rn. 7; jewe......
-
Beschluss vom 07. Dezember 2022 - 2 BvR 1404/20
...Verbot strafbegründender Analogie (vgl. BVerfGE 75, 329 ; 126, 170 ; 130, 1 ; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 9. Februar 2022 - 2 BvL 1/20 -, Rn. 88). Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die – tatbes......
-
Urteil Nr. 1 StR 389/21 des 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, 06-09-2022
...werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestands-merkmalen aufgehen (st. Rspr.; zuletzt etwa BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 2022 – 2 BvL 1/20, zur Veröffentlichung in BVerfGE 160 vorgesehen Rn. 99; siehe auch BGH, Beschluss vom 22. November 2012 – 1 StR 537/12, BGHSt 58, 50 Rn. 7; jewe......