BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 370/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau (…), |
- Bevollmächtigte:
- (…) -
gegen |
a) |
den Beschluss des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr |
vom 20. Januar 2022 - 12 C 1234/21 -, |
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b) |
das Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr |
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vom 21. Dezember 2021 - 12 C 1234/21 - |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Müller
und die Richterinnen Langenfeld,
Fetzer
am 10. Mai 2023 einstimmig beschlossen:
- Das Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 21. Dezember 2021 - 12 C 1234/21 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 Grundgesetz.
- Das Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 21. Dezember 2021 - 12 C 1234/21 - wird aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
I.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen ein klageabweisendes amtsgerichtliches Urteil und einen Beschluss über eine hiergegen erhobene Anhörungsrüge.
1. Die Beschwerdeführerin war 2020 zeitweise Mitglied des Unternehmens des Beklagten, eines Zusammenschlusses von Künstlerinnen und Künstlern, der musikalische Dienstleistungen anbietet.
a) Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 19. Oktober 2021 erhob die Beschwerdeführerin Teilklage auf Auszahlung von Beträgen, die der Beklagte im Rahmen eines – später stornierten – Gastspielvertrages vereinnahmt habe. Sie stellte sich auf den Standpunkt, die Anzahlungen stünden ihr und nicht dem Beklagten zu.
b) Der Beklagte trat der Forderung entgegen und erklärte, bei den von den Kunden geleisteten Anzahlungen handele es sich um eine Planungspauschale. Diese diene der Finanzierung der laufenden Ausgaben des Künstlerkollektivs; im Gegenzug verzichte man auf die Erhebung von Mitgliedsgebühren. Es bestehe eine „Zielvereinbarung“, die Grundlage für diese Praxis sei; zudem ergebe sich dies aus dem Gastspielvertrag selbst.
2. a) Das Amtsgericht leitete die Klageerwiderung mit Schreiben vom 1. Dezember 2021 weiter und setzte eine Frist zur Replik innerhalb von zwei Wochen. Das Schreiben ging am 6. Dezember 2021 bei dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin ein.
b) Mit Schreiben vom 20. Dezember 2021 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin Fristverlängerung. Aufgrund erheblicher Arbeitsüberlastung und urlaubsbedingter Ortsabwesenheit vom 6. bis 10. Dezember 2021 sei eine inhaltliche Rücksprache mit der Beschwerdeführerin nicht mehr rechtzeitig möglich. Das Schreiben wurde am 20. Dezember 2021 um 17:54 Uhr per besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) versandt.
Laut handschriftlichem Vermerk lag das Schreiben dem Richter zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht vor.
c) Mit Urteil vom 21. Dezember 2021 wies das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr die Klage ab. Aus dem Gastspielvertrag gehe hervor, dass die Planungspauschale in Höhe von 249 Euro nicht zugunsten der Beschwerdeführerin, sondern zugunsten des beklagten Kollektivs zu zahlen sei.
Das Urteil wurde der Geschäftsstelle am 21. Dezember 2021, 13:35 Uhr, übergeben und den Parteien aufgrund Verfügung vom selben Tag zugestellt.
3. a) Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 30. Dezember 2021 erhob die Beschwerdeführerin Anhörungsrüge. Das Urteil sei ohne vorherige Entscheidung über ihren Fristverlängerungsantrag ergangen. Wäre die Frist antragsgemäß verlängert worden, was im Falle der erstmaligen Verlängerung zu erwarten sei, zumal tragfähige Gründe anwaltlich versichert worden seien, so wäre das Bestehen einer Zielvereinbarung bestritten worden. Zudem wäre ausgeführt worden, warum der Beschwerdeführerin, die im Außenverhältnis allein das Risiko getragen habe, die Anzahlungen zustünden.
b) Mit Beschluss vom 20. Januar 2022 wies das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr die Anhörungsrüge als unbegründet zurück. Gegen Art. 103 Abs. 1 GG sei nicht in entscheidungserheblicher Weise verstoßen worden. Der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin hätte sein Fristverlängerungsgesuch früher stellen müssen. Er habe nicht erwarten können, dass nach Ablauf der üblichen Dienstzeiten noch über sein Gesuch entschieden werde und er habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass dem Antrag stattgegeben werden würde. Bei Abfassung des Urteils habe der Antrag noch nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nur bei plötzlicher und unvorhergesehener Arbeitsüberlastung gewährt werden.
Der Beschluss wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 28. Januar 2022 zugestellt.
II.
Mit ihrer am 28. Februar 2022 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe nicht damit rechnen...