Beschluss vom 10. Oktober 2012 - 2 BvR 922/11
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2012:rk20121010.2bvr092211 |
Date | 10 Octubre 2012 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Oktober 2012 - 2 BvR 922/11 - Rn. (1-28), |
Judgement Number | 2 BvR 922/11 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 922/11 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G...
gegen a) | den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 31. März 2011 - III-1 Vollz (Ws) 130/11 -, |
b) | den Beschluss des Landgerichts Bochum vom 13. Dezember 2010 - III StVK 1162/10 - |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Huber
und die Richterin Kessal-Wulf
am 10. Oktober 2012 einstimmig beschlossen:
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm vom 31. März 2011 - III-1 Vollz (Ws) 130/11 - und des Landgerichts Bochum vom 13. Dezember 2010 - III StVK 1162/10 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse werden aufgehoben, und die Sache wird an das Landgericht Bochum zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die medizinische Behandlung des an Diabetes mellitus erkrankten, strafgefangenen Beschwerdeführers.
1. Der Beschwerdeführer verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Er leidet seit über 30 Jahren an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus des Typs I. Im Justizvollzugskrankenhaus F. wurde die Behandlung des Beschwerdeführers auf morgendlich zwölf und abendlich vierzehn Einheiten des sogenannten Protaphane-Insulins, eines Verzögerungsinsulins, eingestellt. Zusätzlich wurden je verzehrter Broteinheit zwei Einheiten des kurzfristig wirkenden „Actrapid-Insulins“ verabreicht. Nach Aufnahme des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt B. stellte der dortige Anstaltsarzt diese Therapie auf eine Abgabe von jeweils vierzehn Einheiten des Protaphane-Insulins am Morgen und Abend um, eine weitere Insulingabe erfolgte nicht.
2. Mit Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 109 StVollzG) begehrte der Beschwerdeführer, dass die Justizvollzugsanstalt zu einer Neueinstellung seiner Insulinversorgung und zur Durchführung notwendiger Untersuchungen sowie dazu verpflichtet werde, Qualifikationsnachweise der Anstaltsärzte beizubringen und - hilfsweise - seine Therapie gegebenenfalls durch einen externen Diabetologen begutachten zu lassen. Die in der Justizvollzugsanstalt durchgeführte Therapie sei unangemessen und gesundheitsschädigend. Da ihm - im Gegensatz zu seiner früheren Behandlung - zu den Mahlzeiten kein kurzfristig wirkendes Insulin gegeben werde, führe jede Nahrungsaufnahme zu gesundheitsschädigenden Blutwerten. Es sei ihm nur durch extremen Nahrungsverzicht möglich, nicht ständig Blutzuckerwerte von über 300 mg/dl hinnehmen zu müssen, die zu Schädigungen unter anderem der Nieren und des Augenhintergrundes führen könnten. Aus Art. 1 GG ergebe sich für einen Strafgefangenen ein Leistungsrecht auf ärztliche Versorgung; Behandlungsmaßnahmen des Anstaltsarztes seien als behördliche Realhandlungen hoheitlicher Art von der gerichtlichen Prüfung nicht ausgenommen. Die gerichtliche Überprüfung richte sich vielmehr nach denselben Grundsätzen wie bei jeder anderen Vollzugsmaßnahme; ein besonderes Arztgewaltverhältnis sei nicht anzuerkennen. Zwar stehe dem Anstaltsarzt hinsichtlich der Therapieform ein Ermessen zu, das Gericht habe jedoch in jedem einzelnen Fall zu überprüfen, ob die Grenzen des ärztlichen Ermessens überschritten seien, der Anstaltsarzt also die Regeln der ärztlichen Kunst eingehalten habe. Seinem Antrag legte der Beschwerdeführer ein Schreiben eines Diabetologen bei, der die alleinige Verabreichung von Protaphane-Insulin bei einem Diabetes mellitus Typ I als nicht zu verantworten bezeichnete. Auf Nachfrage des Gerichts konkretisierte der Beschwerdeführer sein Begehren hinsichtlich der Untersuchungen, indem er beanstandete, dass Untersuchungen der Cholesterinwerte und der Schilddrüsenwerte, regelmäßige Vorstellungen beim Neurologen, gebotene Maßnahmen der Fußpflege sowie Urinuntersuchungen zur Feststellung von Eiweiß im Urin nicht erfolgten.
Die Justizvollzugsanstalt nahm dahingehend Stellung, dass dem Beschwerdeführer nach § 58 StVollzG ein subjektives öffentliches Recht auf gesundheitliche Betreuung zustehe, er aber keinen Anspruch auf eine bestimmte oder von ihm gewünschte Behandlungsmaßnahme, sondern nur Anspruch auf eine im Rahmen sachgerechter ärztlicher Erwägung liegende Heilfürsorge habe; diesem Anspruch werde Rechnung getragen. Nach Angaben des Anstaltsarztes kämen beim Beschwerdeführer auch bei relativ geringen Insulindosen immer wieder hypoglykämische Situationen vor; in der letzten Zeit habe mehrfach ein Notarzt wegen Bewusstlosigkeit gerufen werden müssen. Zudem bestehe der Verdacht, dass der Beschwerdeführer Fremdinsuline, das heißt Insuline, die andere Diabetiker im Hafthaus benutzten, spritze. Es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer das Ziel verfolge, unsachgemäß und selbstschädigend Insulin zu spritzen. Dies sei geeignet, ihn in die Bewusstlosigkeit zu treiben, und unter ungünstigen Bedingungen lebensbedrohlich. Zu Unterzuckerungen sei es auch gekommen, weil der Beschwerdeführer nichts mehr gegessen habe. Aus diesen Gründen sei die Justizvollzugsanstalt gezwungen, eine Blutzuckereinstellung auf „hohem Niveau“ vorzunehmen. Dadurch wäge sie Risiken ab; sie sei sich bewusst, dass dies keine Behandlung lege artis sei. Augenärztliche Untersuchungen sowie eine „diabetisch spezielle Labordiagnostik“ hätten stattgefunden. Somit gebe es keine „unterlassenen Untersuchungen“.
3. Die Strafvollstreckungskammer wies mit angegriffenem Beschluss den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig zurück. Der Gegenstand des Antrags auf gerichtliche Entscheidung sei keine „Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzuges“ im Sinne des § 109 StVollzG. Der Beschwerdeführer begehre nicht die...
Um weiterzulesen
FORDERN SIE IHR PROBEABO AN