BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 661/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
1. |
der Frau (…), | |
2. |
der Frau (…), | |
3. |
des Herrn (…), |
gegen |
a) den Beschluss des Landgerichts Flensburg |
|
vom 30. März 2022 - 5 T 69/22 -, |
||
b) den Beschluss des Amtsgerichts Flensburg |
||
vom 25. März 2022 - 53 M 677/22 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hermanns,
den Richter Maidowski
und die Richterin Langenfeld
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 17. Mai 2022 einstimmig beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen
- Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG)
I.
Die Verfassungsbeschwerde und der Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffen die bereits vor Beschwerde- und Antragseingang am 31. März 2022 vollzogene Zwangsräumung einer Wohnung der Beschwerdeführer.
1. Die Beschwerdeführer bewohnten eine Mietwohnung. Sie wurden durch das Amtsgericht verurteilt, diese Wohnung zu räumen und an den Vermieter herauszugeben. Die dagegen eingelegte Berufung wies das Landgericht ebenso zurück, wie eine sodann erhobene Anhörungsrüge.
2. Die am 2. Dezember 1986 geborene Beschwerdeführerin zu 1., deren Eltern die Beschwerdeführer zu 2. und 3. sind, ist seit dem 22. Dezember 2016 wegen einer Angststörung verrentet.
Ausweislich der nervenärztlichen Bescheinigung eines Arztes für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapie (Facharzt) vom 28. Februar 2022
„befindet sich [die Beschwerdeführerin zu 1.] seit 14.04.21 in meiner psychiatrischen Mitbehandlung wegen einer psychischen Polysymptomatik im Rahmen einer langjährigen chronisch verlaufenden seelischen Erkrankung.
Die Patientin ist unter anderem beeinträchtigt durch eine chronische Angststörung mit der Folge, dass sie nur im Schutze der Dunkelheit und in Begleitung eines Hundes oder eines Elternteils die Wohnung verlassen kann.
Sie muss daher zur ärztlichen Behandlung in ihrem Hause aufgesucht [werden] und bedarf der ständigen Betreuung durch ihre Eltern und des Schutzes durch die vertraute Umgebung.
Trotz Ursachen angemessener Behandlung lässt sich der Zustand der berenteten Frau in den letzten Jahren nicht verbessern.
Die Kündigung der jetzigen Wohnung stellte für die Patientin eine erhebliche Veränderungsbelastung dar, die sich durch den Räumungsbeschluss nochmals drastisch verstärkt hat. Es ist nicht auszuschließen, dass es bei einer Zwangsräumung bis zur Stabilisierung ihres Gesundheitszustandes zu weiteren gefährdenden Auswirkungen auf die gesundheitliche Situation (katastrophisierendes Handeln einschließlich Suizidalität) kommen kann und dies zur Gefährdung für Leib und Leben führt.“
3. Unter dem 18. Februar 2022 kündigte ein Obergerichtsvollzieher gegenüber den Beschwerdeführern die Räumung für den 31. März 2022 um 8:00 Uhr an.
Daraufhin stellten die Beschwerdeführer einen Vollstreckungsschutzantrag. Dieser war darauf gerichtet, die Zwangsvollstreckung einstweilen bis zur Stabilisierung des Gesundheitszustands der Beschwerdeführerin zu 1., mindestens jedoch für die Dauer von zwölf Monaten einzustellen. Die Beschwerdeführer begründeten ihren Antrag insbesondere unter Vorlage des Rentenbescheids zugunsten der Beschwerdeführerin zu 1. sowie der nervenärztlichen Bescheinigung.
4. Das Amtsgericht lehnte den Vollstreckungsschutzantrag mit angegriffenem Beschluss vom 25. März 2022 ab. Zwar sei eine Angststörung durch die Vorlage der nervenärztlichen Bescheinigung sowie des Rentenbescheids hinreichend belegt worden. Allerdings müsse auch beim Bestehen einer konkreten Lebensgefahr sorgfältig geprüft werden, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise begegnet werden könne. Von der Beschwerdeführerin zu 1. könne erwartet werden, dass sie alles ihr Zumutbare unternehme, um Gefahren für Leben und Gesundheit möglichst auszuschließen.
Sei wie vorliegend eine Angehörige betroffen, könne auch von den Familienmitgliedern erwartet werden, dass sie das ihnen Zumutbare zur Gefahrenabwehr unternähmen. Es sei die Möglichkeit einer Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung bei den zuständigen Behörden (Gesundheits- und Ordnungsamt, Gericht) in Betracht zu ziehen. Zudem könne fachliche Hilfe gegebenenfalls auch durch einen stationären Aufenthalt in einer Klinik in Anspruch genommen werden. Ferner habe das Amtsgericht zur Abwendung einer Gefahr über den Obergerichtsvollzieher den sozialpsychiatrischen Dienst über die bei der Beschwerdeführerin zu 1. bestehende Suizidgefahr vorsorglich informieren lassen. Die zuständige Sozialpädagogin habe dem Gericht am 22. März 2022 telefonisch zugesichert, mit der Beschwerdeführerin zu 1. Kontakt aufzunehmen und sich eine Einschätzung der Lage zu machen und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen zu treffen.
5. Die sodann von den Beschwerdeführern eingelegte sofortige Beschwerde begründeten die Beschwerdeführer im Kern erneut unter Hinweis auf den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin zu 1. und die damit verbundenen Beeinträchtigungen.
6. Das Amtsgericht half der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 30. März 2022 im Wesentlichen deshalb nicht ab, weil sich eine konkrete Suizidgefahr aus der nervenärztlichen Bescheinigung nicht ergebe und darüber hinaus die Hilfe des sozialpsychiatrischen Dienstes in Anspruch genommen werden könne.
7. Das Landgericht wies die sofortige Beschwerde mit verfahrensgegenständlichem Beschluss vom 30. März 2022 als unbegründet zurück. Die Durchführung der Räumung sei trotz einer damit möglicherweise einhergehenden Verschlechterung der Symptomatik der Beschwerdeführerin zu 1. nicht als sittenwidrige Härte im Sinne des § 765a ZPO zu werten. Es werde zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts Bezug genommen. Es fehlten hinreichende Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für das Leben der Beschwerdeführerin zu 1. Bei Unterstellung der Richtigkeit der Ausführungen in der nervenärztlichen Bescheinigung sei zwar im Ergebnis mit einer Verschlechterung der Symptomatik bei Durchführung der Räumung zu rechnen...